Mittwoch, 09. Oktober, 2024

Falins Fehler: Interview mit Botschafter Wladislaw Terechow

Von Viktor Loschak

PD: Lassen Sie uns mit der geheimnisvollen Botschaft beginnen, die ZK-Sekretär Valentin Falin zwei Wochen nach dem Mauerfall an Kanzler Helmut Kohl übermitteln ließ. Falin war ohne Zweifel ein herausragender Deutschland-Kenner, von 1971 bis 1978 auch Botschafter dort. Es war Nikolai Portugalow, ein wichtiger Berater von Parteichef Gorbatschow, der die Nachricht an Horst Teltschik übergab. Portugalow war später auf sowjetischer Seite maßgeblich an den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands beteiligt. Aus welchem Grund hat Falin weder Gorbatschow noch Außenminister Eduard Schewardnadse informiert?

Wladislaw Terechow: Zu diesem Zeitpunkt stand die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands schon nicht mehr in Zweifel. Gorbatschow allerdings äußerte sich darüber nur sehr nebulös und nannte einen Zeitraum von 50, wenn nicht 100 Jahren. Genau genommen war Gorbatschow nicht der erste, das Thema der Wiedervereinigung war ja nie ganz gestorben, wahrscheinlich schon seit Kriegsende.

Nur wenige wissen noch, dass der Brief über die deutsche Wiedervereinigung eine Anlage zu dem Vertrag war, den Breschnew und Brandt 1970 unterzeichneten. Zwanzig Jahre vor dem Fall der Mauer sah der Brief eine Entwicklung der Welt in der Zukunft voraus, die dem deutschen Volk erlauben würde, die Einheit wiederzuerlangen. Ohne dieses Dokument wäre der Vertrag vom Bundestag überhaupt nicht ratifiziert worden, obwohl andererseits 1975 in Helsinki alle zu diesem Zeitpunkt existierenden Grenzen anerkannt wurden.

Falins Brief war ein Fehler. Sein Ziel war anscheinend, die deutsche Seite davon abzuhalten, die Ereignisse zu forcieren, nämlich die Idee einer zukünftigen deutschen Konföderation. Er dachte wohl, er könne Kohl zur Besonnenheit mahnen, dazu, dass er die Meinung der UdSSR nicht ignorieren konnte.

Leider verstand die westdeutsche Regierung diese Botschaft auf ihre Art. Horst Teltschik, Kohls außenpolitscher Berater, übergab ihm das Dokument mit den Worten: „Die Russen denken über eine Wiedervereinigung Deutschlands nach!“ Kohl nahm die Schrift Falins als Signal aus Moskau, er weitete seine Offerten in dieser Frage aus und agierte offensiver. Das war ein unvorsichtiger Schritt. Ohne es selbst zu wollen, gaben wir zu verstehen, wir würden über den Prozess einer Wiedervereinigung nachdenken.

Und in Wirklichkeit? Anatoli Tschernjajew, Gorbatschows sicherheitspolitscher Berater, schrieb, Gorbatschow sei gerade zu jener Zeit so sehr von den Problemen des eigenen Landes beansprucht gewesen, dass er für internationale Fragen allenfalls fünf Prozent seiner Arbeitszeit aufwenden konnte. 

In Wirklichkeit kümmerte sich eine ganze Gruppe von Personen innerhalb der Regierung um außenpolitische Fragen: Eduard Schewardnadse, Alexander Jakowlew, Valentin Falin, und Tschernjajew selbst auch. Dazu gesellte sich des öfteren Wadim Medwedjew, ZK-Sekretär für Ideologie.

Gorbatschow selbst war immer ausweichend. Seine Antworten konnte man so oder so verstehen. Und der Prozess war am Gären – der Warschauer Vertrag platzte aus allen Nähten.

Das Problem lag auch darin, dass die Regierung der BRD jedes Wort Gorbatschows zu ihrem Nutzen interpretierte. Zudem gab es in diesem Moment unter den europäischen Politikern keine einheitliche Front unter deutscher Flagge, Europa hatte sich noch nicht von seinem Argwohn gegenüber einem erstarkenden Deutschland erholt. Thatcher und Mitterrand wollten den Prozess der Wiedervereinigung nicht beschleunigen. Kohl und sein Außenminister Genscher fühlten sich unsicher.

In dieser Verfassung flogen sie nach Moskau. Sie mussten wissen, dass die Politik Gorbatschows und Schewardnadses auf dem Plenum des ZK der KPdSU unmittelbar vor ihrem Besuch heftig kritisiert worden war. Sie waren besorgt, ob Gorbatschow unter diesen Umständen zu Konzessionen bereit sein würde.

Aber bei dem Treffen setzte Gorbatschow eine Erklärung ab, die für Kohl eine Sensation war: Teltschik hat später die Seite aus der *Prawda* (vom 11. Februar 1990), auf der diese Erklärung gedruckt war, eingerahmt und in seinem Büro aufgehängt. In dem TASS-Bericht hieß es: „M. S. Gorbatschow konstatierte – im vollen Einverständnis mit dem Bundeskanzler –, dass jetzt zwischen der UdSSR, der BRD und der DDR Einigkeit darin bestehe, dass die Frage der Einheit der deutschen Nation von den Deutschen selbst entschieden werden müsse, dass sie selbst konkretisieren müssten, in welchem Zeitraum, mit welchem Tempo und zu welchen Bedingungen diese Einheit realisiert werden wird.“ Das war die volle Handlungsfreiheit für die innerdeutschen Verhandlungen.

Und was denken Sie über den Zeitpunkt des Mauerfalls?

Das geschah alles irgendwie übereilt und ungeschickt. Die Regierung der DDR befand sich in diesem Moment in einer desolaten Verfassung. Sie wollten wie gewohnt Anweisungen aus Moskau: Wie soll man mit den Demonstrationen umgehen? Sollen wir die Mauer schützen? Wie sollen wir in Bezug auf die BRD verfahren? Aber sie bekamen keine brauchbaren Antworten.

Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow, mein Kollege in Ost-Berlin, schickte eine chiffrierte Nachricht nach Moskau und wartete auf Anweisung, wie er sich in dieser schwierigen Situation verhalten sollte. Auch ihm wurde nicht geantwortet. Man kann sagen, das einzige, was aus Moskau kam, war der Befehl, die Armee in den Kasernen zu lassen.

Das schwerstwiegende Ereignis im Verlauf Ihres fast achtjährigen Aufenthalts in Deutschland war die Rückführung der sowjetischen Truppen. Das war nun schon eine direkte Folge des Mauerfalls und der sich andeutenden Wiedervereinigung.

Ich erinnere mich an das Treffen von Gorbatschow und Kohl in Archys im Juli 1990. In einer Pause zwischen den Sitzungen diskutierten wir im Kreis der Berater mit Gorbatschow unsere Positionen. „Was tun wir mit den sowjetischen Streitkräften in Deutschland, die mitten im Zentrum Europas stehen?“ Er winkte ab: „Wir stehen nicht, wir liegen. Wir haben nicht einmal das Geld, sie zu unterhalten.“

In mehreren Büchern, die an dieses Treffen erinnern, sieht dieses Treffen in Archys wie ein Symbol der Kapitulation aus. War es so?

In Archys geschah nichts Unerwartetes oder Ungeplantes. Die Gespräche über die Aufnahme des wiedervereinigten Deutschlands in die Nato, über die Übergangsperiode, über die Finanzierung der Rückführung der sowjetischen Truppen waren zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ein halbes Jahr im Gang.

Warum haben wir so wenig für den Rückzug und die Unterbringung unserer Truppen bekommen, nämlich nur 15 Milliarden D-Mark, während wir doch, wie man sagt, mehr als 80 Milliarden verlangt hatten?

Man muss die Schwäche unserer Verhandlungsposition berücksichtigen. Die Härte unserer öffentlichen Erklärungen und Forderungen wurde nivelliert von zunehmenden Bitten um wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zur Überwindung der akuten Krise, in der sich unser Land befand. Unsere westlichen Partner haben das weidlich ausgenutzt, sie haben ihre Forderungen kontinuierlich erhöht und sind keine wesentlichen Kompromisse eingegangen.

Kommen wir noch einmal zurück zu Archys.

Der Flug in die Region Stawropol, wo Gorbatschow früher Regierungschef gewesen war, war die Fortsetzung der Moskauer Verhandlungen. Kohl war einverstanden, sich dorthin zu begeben, weil er von Gorbatschow die Einwilligung zu einer vollen Souveränität seines Landes erwartete.

In Stawropol organisierte Gorbatschow einen Besuch beim Regionskomitee, dessen Vorsitzender er früher gewesen war, und Kohl bereitete den anwesenden Journalisten die Freude, sich im Sessel des Ersten Sekretärs fotografieren zu lassen. Anschließend landeten die Hubschrauber in einem Getreidefeld, wo gerade die Ernte eingebracht wurde, und die Arbeiter wünschten den Regierungschefs viel Erfolg.

Am nächsten Tag fanden sehr anstrengende Verhandlungen statt. Gorbatschow setzte einige wichtige Zugeständnisse durch, darunter vor allem die ausdrückliche Zusicherung, dass auf dem Territorium der ehemaligen DDR keine ausländischen NATO-Truppen stationiert und keine Atomwaffen gelagert werden durften. Nach längerer Verhandlung willigte der Kanzler ein.

Der Präsident bestand auf einer Reduzierung der Zahl der Bundeswehrsoldaten, und Kohl stimmte einer Größenordnung von 370 000 zu, obwohl Gorbatschow ursprünglich die Zahl 250 000 genannt hatte. Man einigte sich auch bezüglich der Finanzierung der sowjetischen Truppen in Deutschland über den Zeitraum von vier Jahren, wenn auch in geringerem Umfang, als wir uns das vorgestellt hatten. Verhandelt wurden auch die Bedingungen der Rückführung der Truppen und die Finanzierung neu zu bauender Wohnungen für die Offiziere. Somit machten die Verhandlungen in Archys den Weg frei für die „Zwei-plus-Vier“-Gespräche.

So wie Sie das erzählen, ging das alles ganz glatt und reibungslos. Ich erinnere mich aber noch an die Berichte aus jenen Jahren: Ein Feld mit den schneebedeckten Zelten der sowjetischen Soldaten, liegengebliebenes militärisches Gerät, die Mauscheleien mit den Vermögenswerten der Armee.

Alle, auch die Diplomaten, hatten viel durchzumachen, als es darum ging, diese Verträge in die Praxis umzusetzen. Fast eine halbe Million Soldaten und Offiziere und eine unglaubliche Menge an Waffen! Das von den Deutschen bewilligte Geld reichte hinten und vorne nicht.

Zwischen Deutschland und der UdSSR lag ja auch noch Polen. Alle Verpflichtungen innerhalb des Warschauer Pakts waren inexistent geworden. Die Polen waren knallhart: Wenn ihr durchwollt, dann zahlt! Wir mussten die Flotte mobilisieren und über den Wasserweg gehen.

Seltsam, dass der letzte Staatschef, der die DDR besuchte, der französische Präsident war, nicht der sowjetische.

Mitterrand hat nicht nur die DDR besucht, er unterzeichnete zum Abschied sogar noch diverse Verträge. Er hatte Gorbatschow vorgeschlagen, diesen Besuch gemeinsam zu unternehmen, aber Gorbatschow sagte ab, sicher zu Recht, weil ihm klar war, dass ihm nur die Rolle des Totengräbers dieses Landes zukäme.

So ist das, wenn der „Totengräber“ und der „Befreier“ sich in einer Person vereinen können. Danke für das Gespräch.

Mit Wladislaw Terechow, von 1990 bis 1997 Botschafter der UdSSR und der Russischen Föderation in Deutschland, sprach Viktor Loschak, Chefredakteur des Petersburger Dialogs auf russischer Seite.

Viktor Loschak
ist Chefredakteur der russischen Ausgabe des Petersburger Dialogs. Er beobachtete die Wahl in seiner Heimatstadt Odessa.

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