Freitag, 29. März, 2024

Go east: Desertierte Nato-Soldaten in die DDR

Von Peter Koepf Diese Aufnahme von Peter Leibing ist weltberühmt: Der Volkspolizist Conrad Schumann sprang im August 1961 über den Stacheldrahtzaun in den Westen Berlins. Dass Angehörige von Nato-Armeen in den Osten desertierten, ist weniger bekannt.
Bild: pa/obs United Charity gemeinnützige Stiftungs GmbH

Es ist der 1. Dezember 1953, Wolken hängen träge am Himmel, das Thermometer misst 12 Grad, die Himbeeren blühen und die Bienen schwärmen aus, als der französische Soldat Simon Le Roy in der Westberliner Bülowstraße in die U-Bahn ein- und im Ostberliner Bezirk Friedrichsfelde aussteigt. Er strebt über die Treskowallee der sowjetischen Kommandantur entgegen, tritt zielstrebig ein und bittet um Asyl und Arbeit in der DDR. So steht es in einem Bericht in seiner Stasi-Akte, MfS AP 11632/62, mit Datum 9. Dezember 1953.

Le Roy war nicht der einzige Soldat aus westeuropäischen Staaten und den USA, die desertierten und glaubten, in der DDR ein neues Leben beginnen zu können. Allein bis zum Mauerbau 1961 waren es rund 200.

Einige von ihnen hatten gute Gründe: Franzosen und Amerikaner wollten nicht auf den asiatischen oder nordafrikanischen Schlachtfeldern sterben, ein paar Afroamerikaner sich die Liebe zu deutschen Frauen weder von ihren weißen „Kameraden“ noch vom Ku-Klux-Klan zu Hause verbieten lassen. Es gab britische Kommunisten, holländische Abenteurer und Kriminelle jeglicher Nation, die sich einer Bestrafung durch ein Militärgericht entziehen wollten. Und auch 40 französische Armeeangehörige. Einer von ihnen war Le Roy.

Simon Dimitri Le Roy, geboren am

4.Februar 1935 in Ezy-sur-Eure, 60 Kilometer westlich von Paris, war der Sohn des im französischen Exil lebenden ukrainischen Gummifabrikanten Symon Sozontiv und einer Französin. Er war ein guter Schüler. Nach dem Abschluss begann er ein Studium der Chemie.

Er hätte alles erreichen können, die Welt stand ihm offen. Aber welcher junge Kerl von 18 Jahren will sich schon von seinem Vater etwas sagen lassen, noch dazu von einem Kapitalisten, der seinem eigenen Sohn in der Fabrik genau so wenig durchgehen ließ wie jedem gewöhnlichen Arbeiter?

Le Roy wollte raus, weg aus der Abhängigkeit von der Familie. Er sah nur einen Weg: die Armee. Im Juni 1953 meldete er sich zum Dienst und erhielt die „numero d’immatriculation 2965”. Sein Dienstort wurde eine Kaserne in Berlin.

Schon nach wenigen Monaten bereute Le Roy diesen Entschluss: Zwei Tage, bevor er nach Marseille reisen sollte, um dort auf das nächste Schiff nach Indochina zu warten, desertierte er und suchte Unterschlupf in der DDR.

Am 3. Dezember begründete Le Roy in der Russischen Kommandantur handschriftlich in violetter Tinte seine Flucht: „Die Politik der französischen Regierung widerspricht grundsätzlich meinen Vorstellungen.“ Frankreich sei kein freies Land, sondern „Gefangener des amerikanischen Kapitalismus”. Der Import von US-Produkten, welche auch französische Firmen herstellen könnten, hemme die französische Wirtschaft. Das führe dazu, dass „die Arbeiter keine Arbeit finden oder einen läppischen Lohn erhalten, von dem sie nicht leben können“.

Die Sowjets entließen Le Roy nach drei Tagen aus der „commandatur Russe” und übergaben ihn den Behörden der DDR, genauer: dem Ministerium für Staatssicherheit. In einem Haus an einem See am Stadtrand, umgeben von einer Mauer mit einer Krone aus Glasscherben, befragte ihn ein „Dr. Huber“ und ließ ihn immer wieder seinen Lebenslauf aufschreiben. Schließlich nahm Le Roy einen Bleistift in die Hand und notierte auf einem Stück braunen Papiers: „Ich weigere mich, in der französischen Armee zu dienen, die von den amerikanischen Kapitalisten bezahlt wird.“ Er bat darum, in der DDR bleiben zu dürfen, als „politischer Flüchtling“.

Die ostdeutsche Nachrichtenagentur ADN verbreitete daraufhin eine Meldung, welche die SED-Parteizeitung Neues Deutschland unter der Überschrift druckte: „Französischer Soldat bittet um Asyl“. Le Roy habe gesagt: „Ich sehe den Krieg in Indochina als Anschlag auf die Freiheit eines Volkes an, das ich hoch achte. Ich will nicht gegen ein Volk kämpfen, dem ebenso wie mir die Freiheit teuer ist und das die Unabhängigkeit seines Landes verteidigt.“

Je länger sie ihn jedoch, bekleidet mit einem lächerlichen violett gestreiften Schlafanzug und klobigen Holzschuhen, in diesem Haus am See festhielten, das er nur selten für einen Spaziergang im Garten verlassen durfte und in dem das Essen so lausig war, desto mehr fühlte sich Le Roy wie ein Gefangener. Gemeinsam mit einem Amerikaner beschloss er zu türmen, um sich bei der Sowjetischen Kommandantur zu beschweren.

Le Roy bastelte einen Dietrich, mit dem er an einem Tag Anfang März 1954 ihre Türen öffnete. Um sich draußen gegen die Kälte schützen und die mit Glasscherben bekrönte Mauer unverletzt überwinden zu können, „entführten“ sie eine Steppdecke.

Den Diebstahl der Decke konnte „Dr. Huber“ verschmerzen. Dass die Sowjets nachgaben und die beiden Ausbrecher schließlich nach Bautzen entließen, empfand er jedoch als Demütigung.

In diesem Städtchen, in der östlichsten Ecke der Republik gelegenen, traf Le Roy auf eine Reihe von amerikanischen, britischen und französischen Deserteuren – darunter auch Männer aus Marokko und Algerien, die nicht gegen ihre Brüder in der Heimat kämpfen wollten. Treffpunkt der Überläufer war eine etwas heruntergekommene, gleichwohl noch immer beeindruckende Gründerzeitvilla, in der die „Internationale Solidaritätsaktion“ (IS) nicht nur ein Klubhaus eingerichtet hatte, sondern auch eine Schule, in der die Neuankömmlinge die deutsche Sprache und die Grundzüge des Marxismus-Leninismus lernen sollten.

Die Mehrzahl der Deserteure war unzufrieden. Und bald kannte Le Roy die Gründe dafür: Weder das Schul-Stipendium noch der Lohn für Arbeit würde ihm je ein Leben nach seinen Vorstellungen ermöglichen. Die Wohnung in dem kleinen, feuchten, heruntergekommenen Häuschen in einer Gasse unterhalb des Schlosses war unerträglich, sein Mitbewohner, ein weiterer Franzose, hatte zudem einen „Dachschaden“, wie er klagte. Aber die Leitung der IS verweigerte ihm ein anderes Zimmer, in dem er allein hätte leben können.

Als am schlimmsten empfand er, dass er den Landkreis nicht verlassen durfte. Diese Beschränkung seiner Freiheit war einem intelligenten, weltoffenen Hedonisten unerträglich. Le Roy wusste nach wenigen Wochen, dass er sich hier nicht einsperren lassen würde.

Schon bald bot sich die Möglichkeit zur Flucht, sein amerikanischer Kumpan taufte das Vorhaben auf den Namen „spring operation“. Der Fluchtplan blieb jedoch nicht unbemerkt. Der Stasi-

Informant namens „IM Taylor“ hatte „Dr. Huber“ gemeldet, Le Roy habe seine Mutter postalisch informiert, „dass ein Vogel in sein Nest zurückkommt“.

Am späten Abend des 20. März 1954, die Männer wollten gerade in den Zug nach Ostberlin einsteigen, nahm die Stasi sie auf dem Bahnsteig fest. Vergebens warteten Le Roys Bruder und sein Vater, der ihm die jugendliche Dummheit offenbar verziehen hatte, in Saarbrücken, um die jungen Männer über die Grenze nach Frankreich zu lotsen.

Noch in der Nacht gab Le Roy den Fluchtplan zu. Er erwarte seine Strafe, schrieb er in Stasi-Gewahrsam. Er hoffe auf eine zweite Chance. Wenig später war Le Roy Geheimer Informator (GI) der Staatssicherheit.

Das war der Preis dafür, dass er bereits 14 Tage nach dem Fluchtversuch das Gefängnis verlassen durfte. In Zimmer 43 des Volkspolizeikreisamts schrieb er im Juni eigenhändig seine Verpflichtungserklärung, seine Berichte werde er mit „Erich Wollmann“ unterzeichnen. Die Treffberichte seines Führungsoffiziers liegen in der Stasi-Akte MfS BV Ddn AGJ 595/55 P-1.

Wieder in Freiheit, durfte Le Roy den Landkreis Bautzen nicht verlassen und die Arbeit langweilte ihn. Auch die Liebe zu einer Frau konnte ihn nicht mit der DDR versöhnen. Es dauerte jedoch nicht lang, bis in ihm erneut der Widerstand wuchs. Und so ging am 7. Juni 1955 um 23 Uhr bei „Dr. Huber“ ein sehr unerfreuliches Telegramm ein: Gegen

15 Uhr sei bekannt geworden, stand darin, „dass der d10 seit dem 5.6.55 nicht mehr gesehen wurde“. D10 war der Stasi-Code für Simon Le Roy.

In seiner Wohnung fand die Stasi ein ungeöffnetes Schreiben der Schwiegermutter, aus dem hervorging, dass der junge Franzose mit seiner Frau flüchten wollte. Als „Dr. Huber“ bei der Schwiegermutter in Köpenick eintraf, fand er nur noch einen Brief der Flüchtigen, abgestempelt im Westberliner Stadtteil Waidmannslust: In dem Schreiben stand, sie seien per Taxi nach Königs Wusterhausen gefahren und von dort mit der S-Bahn nach Westberlin.

Einige Monate später war Le Roys Plan aufgegangen. Auf Befragung der Stasi sagte Le Roys Schwiegermutter, die Flüchtigen seien in Paris. Le Roy arbeite in der Fabrik seines Vaters.

 

 

Zusatzinfo:

Mai 1945, der große Krieg war vorüber, doch bald begann der sogenannte kalte Krieg; der Eiserne Vorhang zog sich zu, mitten durch Deutschland. Nicht alle Menschen wollten akzeptieren, wo das Schicksal sie abgeworfen hatte. Mehr als 3 Millionen kehrten dem kommunistischen Teil Deutschlands den Rücken. 400 000 hofften auf eine Zukunft im Sozialismus, unter ihnen auch europäische und US-amerikanische Soldaten. Peter Koepf hat ihre Akten aus den Stasi-Archiven geholt. 2013 erschien sein Buch: „Wo ist Lieutenant Adkins? Das Schicksal desertierter Nato-Soldaten in der DDR“. (Verlag Ch. Links)

Peter Koepf
ist Chefredakteur dieser Zeitung.