Donnerstag, 14. November, 2024

Der Zwei-Prozent-Streit: Artem Sokolov hat Verständnis dafür, dass Deutschland versucht, sich den von den USA geforderten finanziellen Verpflichtungen bei der Verteidigung zu entziehen

Von Artem Sokolov

In Washington sind die Feierlichkeiten anlässlich des 70. Jahrestags seit der Gründung der Nato mit gemischten Gefühlen zu Ende gegangen. Einerseits wächst und gedeiht die Nordatlantische Allianz, und ihre militärische Macht ist noch immer ein bestimmender Faktor in der Weltpolitik. Andererseits wird das Bündnis von immer mehr inneren Widersprüchen zerrissen, die sich nicht hinter der feierlichen Rhetorik verbergen lassen.

Erstaunlicherweise befindet sich unter den „Problemstaaten“ der Allianz auch Deutschland, das Land, das doch jahrzehntelang als Hochburg des Transatlantismus in der EU galt. Außenminister Heiko Maas musste sich bei den Jubiläums- Feierlichkeiten in Washington harsche Kritik seitens der US-Führung gefallen lassen. US-Vizepräsident Mike Pence sagte, Deutschland gebe zu wenig aus, und forderte Berlin erneut dazu auf, die Militärausgaben zu erhöhen.

Deutschland ist seit 1955 Mitglied der Nato. Die Mitgliedschaft war die Alternative zum Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die seinerzeit an der französischen Nationalversammlung gescheitert war. Die deutsche Regierung unter Konrad Adenauer strebte nach einer möglichst raschen Integration in die westliche Gemeinschaft, in die der Weg unter anderem über ein Sicherheitsbündnis führte. Der Koreakrieg hatte die deutschen Politiker davon überzeugt, dass nur eine kollektive Verteidigung die Bonner Republik vor einer möglichen Aggression beschützen könnte.

Während des Kalten Kriegs verlief die Front zwischen zwei sich bekämpfenden Supermächten im Osten der Bundesrepublik. Die Bundeswehr war fast eine halbe Million Mann stark, hinzu kamen mehrere Millionen Reservisten. Sie galt als eine der stärksten Armeen in Europa, und sie war die erste, die im Fall eines umfassenden bewaffneten Konflikts auf dem Kontinent gegen die Einheiten des Sowjetblocks hätte antreten müssen.

Nach der Wiedervereinigung wandelte sich Deutschlands Stellung innerhalb der Nato. Seine östlichen Grenzen hatten den Status des ständigen Quells militärischer Bedrohung verloren. Die osteuropäischen Staaten strebten nach einer Integration in den Westen und sahen in Berlin einen wichtigen Partner und Lotsen auf diesem Weg.
Nachdem auch Polen und die Tschechische Republik der Nato beigetreten waren, rückte Deutschland ins Hinterland der Allianz – seine Nachbarn waren jetzt militärische Verbündete oder neutrale Staaten. Die Aufgaben der Bundeswehr verlagerten sich weg von der territorialen Verteidigung hin zu entlegenen Missionen im internationalen Format, sie gewährleistete fortan die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch.

Seit Beginn der 2000er Jahre wird in Deutschland die Notwendigkeit der Nato für die Friedenssicherung in ihrem ursprünglichen Format diskutiert. Umfragen zufolge sind die heutigen Ziele und Aufgaben der Nato einem signifikanten Anteil der Deutschen nicht klar.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten vorübergehend den Geist der Militärgemeinschaft und des gemeinsamen Feindes in das Bündnis zurückgebracht. Doch schon zwei Jahre später wurde die Einheit durch die Meinungsverschiedenheiten um den Irak wieder getrübt. Schröders Widerstand gegen eine Beteiligung am Waffengang sorgte für ein angespanntes Verhältnis zu George W. Bush und eine erste, wenn auch kurzzeitige Abkühlung der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 1990.

Das hinderte den Bundeskanzler jedoch nicht daran, für eine Reform der Nato und eine Stärkung ihrer politischen Funktionen einzutreten. Schröders Ideen wurden 2003 bei der Sicherheitskonferenz in München von Verteidigungsminister Peter Struck verlesen. Neben der Stärkung der politischen Komponente der Nato wurde darin der Vorschlag laut, die Rolle der europäischen Staaten innerhalb der Allianz solle gestärkt und die amerikanische Militärpräsenz in den Ländern der EU zurückgefahren werden. Schröders Vorschläge fanden kein Gehör bei den Christdemokraten, welche nach 2005 in der großen Koalition Regierung, Kanzleramt und Verteidigungsministerium übernommen hatten, und so blieb es bei einer Reihe theoretischer Erwägungen.

Mit dem Amtsantritt Angela Merkels endeten die deutschen Experimente mit der Nato, kaum dass sie begonnen hatten. Die Kanzlerin verurteilte die Irrungen ihres Vorgängers und bekräftigte den Kurs einer konsequenten Stärkung der euro-atlantischen Beziehungen. In den deutschen Regierungsrichtlinien wurde die Nato zuverlässig als eine der wichtigsten Organisationen der deutschen Außenpolitik festgelegt. Die Stärke der Bundeswehr und das US-Militärkontingent in Deutschland wurden schrittweise verringert, die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben und mögliche Sicherheitsgefahren als etwas sehr weit Entferntes empfunden.

Die Revision der Grundsätze der US-Außenpolitik durch Donald Trump kam für das deutsche Establishment überraschend – genau wie dessen Wahlsieg. Der Experte für „gute Geschäfte“ brauchte nur einen kurzen Blick auf die Errungenschaften der amerikanischen Diplomatie, um sofort einige vermeintlich schlechte Geschäfte zu identifizieren, die den Geldbeutel der US-Regierung belasteten. Das traf in seinen Augen auch auf die Nordatlantische Allianz zu, deren europäische Verbündete ihre Verteidigungsetats schonten, während ihre Sicherheit auf Washingtons Kosten gewährleistet wurde. Obwohl es viele „Schuldner“ gab, konzentrierte sich Trumps Zorn auf die größte Wirtschaftsmacht der EU – Deutschland.

Der amerikanische Präsident empörte sich darüber, dass Berlin anstelle der erforderlichen Verteidigungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP nicht einmal 1,5 Prozent aufbrachte. Als die deutsche Regierung vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise finanzielle Verpflichtungen auf sich nahm, rechnete sie wohl kaum mit einer ernsthaften Kontrolle ihrer Einhaltung. Die Entscheidung schien eher eine Solidaritätsbekundung unter Alliierten zu sein, die wenig mit dem Erreichen praktischer Ziele zu tun hatte. Die tatsächliche Bereitschaft der deutschen Regierung, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, war in etwa so groß wie die Bereitschaft der Bundeswehrsoldaten, Litauen gegen eine etwaige russische Invasion zu verteidigen.
Als Reaktion auf die Kritik seitens des amerikanischen Verbündeten sah sich Berlin gezwungen, seine Nützlichkeit für die Allianz unter Beweis zu stellen. Die deutsche Regierung appellierte an Trump, die Aufmerksamkeit weniger auf formale Indikatoren und mehr auf konkrete Handlungen zu lenken. Als Hauptargument diente dabei die Teilnahme an Auslandsmissionen der Allianz vom Kosovo bis nach Afghanistan, wo Deutschland das größte Kontingent stellt.

Warum erhöht Deutschland seine Verteidigungsausgaben nicht? Die Gründe dafür lassen sich an der Schnittstelle von Wirtschaft, Außenpolitik und Sicherheit finden. Erstens würden die erforderlichen 2 Prozent des BIP die riesige Summe von rund 80 Milliarden Euro im Jahr bedeuten. Das ist fast doppelt so viel wie die Militärausgaben Frankreichs – einer Atommacht mit hoher militärischer Aktivität in Afrika. Aktuell fehlt es der deutschen Führung an Klarheit darüber, wie ein höheres Verteidigungsbudget effektiv einzusetzen wäre.
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wurde mehrfach mangelnde Kompetenz bei der Verwaltung der Finanzen vorgeworfen. Während die erste Verteidigungsministerin der Bundesrepublik sich mehr auf die sozialen Fragen der Armee konzentrierte, verlor sie den Zustand der Militärtechnik und Artillerie, die Vollausstattung der Soldaten und die Modernisierung aus den Augen. Experten sind überzeugt, dass der heutigen Bundeswehr ausreichend Finanzen zur Verfügung stehen, um die laufenden Aufgaben zu erfüllen; allerdings lässt der Einsatz der Mittel viele Fragen offen.

Zweitens würde Deutschland mit einer Steigerung seines militärischen Potenzials bei seinen europäischen Nachbarn unweigerlich für Unbehagen sorgen. Eine Verwandlung des Wirtschaftsriesen in einen militärischen Hegemon könnte ungute Erinnerungen in Polen oder Frankreich wecken. Das europäische Bedürfnis nach einem starken Deutschland bezieht sich in erster Linie auf die deutsche Wirtschaft, nicht auf die deutsche Armee. Das Nato-Gründungsprinzip „die Deutschen unten halten“ hat an Aktualität zwar verloren, aber von einer Bereitschaft der EU – und vor allem Deutschlands selbst – das anzuerkennen, ist nicht viel zu sehen.

Bisher ist es Berlin gelungen, sich den neuen finanziellen Verpflichtungen bei der Verteidigung zu entziehen. Der Entwurf des Militärhaushalts für 2023 sieht sogar einen geringfügigen Rückgang vor. Das Handeln der deutschen Regierung ist darauf ausgerichtet, Trumps Amtszeit abzuwarten und den Dialog mit einem weniger fordernden Chef im Weißen Haus fortzusetzen. Also lässt Kanzlerin Merkel die Vorwürfe des amerikanischen Kollegen geduldig über sich ergehen und zieht es vor, nicht mit scharfer Gegenrhetorik zu reagieren. Ob diese Taktik einer möglichen zweiten Amtszeit von Trump standhält, bleibt abzuwarten.

Artem Sokolov
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO-Universität).

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