Donnerstag, 25. April, 2024

In der Ukraine muss Wahlsieger Wolodymyr Selenskyj seine ungeduldigen Wähler zufriedenstellen, wird aber kaum vermeiden können, Bündnisse mit den alten politischen Eliten zu schließen

Von Dmitri Stratievski

Der überraschende Sieg Wolodymyr Selenskyjs im ukrainischen Wahlrennen wirft viele Fragen auf, die noch mehrere Monate nicht abschließend beantwortet werden können. Quo vadis, Selenskyj? Wird der politische Newcomer sich von der Westbindung der Ukraine schrittweise verabschieden und die Nähe zu Russland suchen oder bleibt er dem Kurs seines Amtsvorgängers Petro Poroschenko bis auf einige Schönheitsreparaturen treu? Hat sich Selenskyj vorgenommen, das ukrainische gesellschaftspolitische System, einschließlich seiner Schattenseiten wie der Vormachtstellung der Oligarchen, gründlich zu reformieren, oder wird er im Laufe der Zeit gezwungen sein, sich mit den vorhandenen Spielregeln abzufinden?
Viele von Poroschenko angestoßene Reformen wie Dezentralisierungs-, Renten- und Gesundheitsreform wurden von Selenskyj als Kandidat nicht angegriffen und werden vom neuen Präsidenten nicht revidiert. Die Kritik Selenskyjs richtete sich im Wahlkampf hauptsächlich gegen drei (aus seiner Sicht) Misserfolge der jetzigen Regierung: fehlende Transparenz bei der poltischen Entscheidungsfindung, umfangreiche Korruption und Armut der Bevölkerung.

In seinem Programm proklamierte Selenskyj die Notwendigkeit, direkte Demokratie zu praktizieren, die Immunität der Parlamentsabgeordneten, Richter und des Staatspräsidenten aufzuheben und ein neues Gesetz „Über die Macht des Volkes“ zu verabschieden. Diese Forderungen, den Appellen populistischer Parteien Europas nahestehend, fanden großen Zuspruch bei vielen Ukrainern, die dem amtierenden Präsidenten Poroschenko die rote Karte zeigten.

Diese Vorhaben kann Selenskyj im Alleingang nicht umsetzen, weil die entsprechende Entscheidungskompetenz bei der Legislative liegt. Darüber hinaus könnte die Aufhebung der Immunität die hohen Mandats- und Funktionsträger im Lande erpressbar machen.

In vielen EU-Staaten, darunter in Deutschland, genießen Parlamentsmitglieder einen ähnlichen Schutz vor Strafverfolgung. So muss Selenskyj eine eher schwierige Realisierung seiner Absichten in Kauf nehmen und dies gründlich überdenken. Im Bereich Korruptionsbekämpfung, eine unabdingbare Rubrik im Programm aller ukrainischen Präsidentschaftskandidaten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, schlug Selenskyj vor, ehrliche Staatsdiener besser zu entlohnen und korrupte Beamte härter zu sanktionieren, inklusive des lebenslangen Beschäftigungsverbots im öffentlichen Dienst.

Solche Ideen sind nicht neu. Noch 2014 wurde unter Poroschenko das Nationale Antikorruptionsbüro und später die Gesonderte Antikorruptions- Staatsanwaltschaft ins Leben gerufen. 2016 wurden die Erfolge dieser Institutionen als „bescheiden“ attestiert. Einer der Gründe ist die Zusammenballung des Kapitals in der Hand von Großkonzernen, die etwa 40 Prozent des ukrainischen BIP kontrollieren.

Angebracht wären dort nicht revolutionäre, sondern evolutionäre Änderungen in Form der Förderung des Kleingewerbes und des Mittelstands, natürlicher Gegner der Korruption. Das ist jedoch ein langer Prozess, der mit der Ungeduld des Wahlvolks schwer kompatibel zu sein scheint. Im Bereich der Armutsreduzierung kann Selenskyj kurzfristig wenig bewirken. Etwa 45 Prozent der ukrainischen Wirtschaft liegen im Schatten. Die Steuereintreibung ist ungenügend. Vielen Menschen ist der kausale Zusammenhang zwischen der Steuer- und Abgabezahlung und der Verbesserung des Lebensstandards nicht bewusst.

Der scharfe Kommentar Selenskyjs zum Beschluss Moskaus, den Donbass-Bewohnern den Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern, machte Schlagzeilen in der Weltpresse. So zeigte der Hoffnungsträger der Ukrainer seine Härte im Konflikt mit Russland. In der gegenwärtigen Konstellation kann sich kein ukrainischer Staatschef das prorussische Handeln erlauben. Dafür gibt es keine nennenswerten Befürworter. Die politische, kulturelle und wirtschaftliche Elite, auch die ukrainischen Oligarchen, wollen keine Allianz mit Moskau. Zugleich erwartet man von Selenskyj effiziente Schritte im Krieg in der Ostukraine, eine Strategie, die sich von der seines Vorgängers unterscheidet, und im Idealfall eine rasche Beendigung des Kriegs ohne Gebietsabtretung.

Dieses Problem ähnelt der Quadratur des Kreises und scheint von Kiew allein nicht lösbar zu sein. Selenskyj ist auf andauernde Verhandlungen mit Russland angewiesen. Sein Vorschlag, direkt mit Wladimir Putin über die Rolle des Kremls im Krieg zu reden, ist realitätsfern, weil Moskau sich kontinuierlich weigert, seine Funktion als Konfliktpartei im Donbass anzuerkennen. Dazu kündigte Selenskyj an, ukrainische Unterhändler in der Kontaktgruppe auszutauschen. Diese Schaufenstermaßnahmen werden wenig Wirkung erzielen. Deutschland gehört zu den Hauptunterstützer der Ukraine. Angela Merkel hat in den vergangenen fünf Jahren ein enges Verhältnis zu Poroschenko aufgebaut. Poroschenkos Einladung nach Berlin kurz vor der Stichwahl in der Ukraine geriet in Deutschland in die Kritik, während Selenskyjs Besuch nach Paris neutral kommentiert wurde. Dennoch hat die Bundeskanzlerin jedes Kiewer Ersuchen um militärische Hilfe abgelehnt. Diese Strategie wird fortgeführt. Berlin ist bereit, friedensstiftend zu agieren, allerdings ohne direkte Einmischung in den Konflikt in der Ost-Ukraine. Für Selenskyj, der laut Verfassung als Staatspräsident die Grundlagen der Außenpolitik bestimmen wird, gibt es keinen Grund, das bestehende Modell der ukrainisch- deutschen Beziehungen zu revidieren.

Der Öffentlichkeit sind nur wenige Namen von Politikern aus Selenskyjs engem Umfeld bekannt. Als Kandidat ernannte er seine „Vertrauenspersonen“ in jeder Region der Ukraine, meist Unbekannte und bisher Politikferne. Zu seinem Team gehören aber einige Figuren, die längst auf der politischen Bühne aktiv sind. Sein wichtigster Berater, Dmytro Rasumkow, steuerte Wahlkämpfe für mehrere Prominente, wie Sergej Tigipko, damaliger Präsidentschaftskandidat, Vize-Premier und Minister unter Leonid Kutschma und Viktor Janukowitsch. In der Vergangenheit war Rasumkow Mitglied der „Partei der Regionen“. Eine bedeutende Rolle spielt im Stab der Anwalt Vadym Galajtschuk, der seinerzeit mit der Partei „Unsere Ukraine“ von Viktor Juschtschenko kooperierte. Nicht neu in der Politik ist Oleksandr Danyljuk, vormals Finanzminister und stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung, der nach einem Streit mit seinem Chef Poroschenko alle Ämter niederlegen musste. Diese Menschen, die über altbewährte Verbindungen in verschiedenen Einflussgruppen verfügen, werden Selenskyj helfen, sein Handwerk zu verstehen und ihm Zugänge verschaffen. Für das neue Staatsoberhaupt bedeutet es nicht nur die Festigung seiner Position, sondern den Einstieg in die „Systempolitik“, wogegen er sich im Wahlkampf wehrte. Auf Selenskyj kommen gewaltige Aufgaben zu. Er steckt in einem strategischen Dilemma. Als junger Politiker ohne „belastete Vergangenheit“ genießt er einen großen Vertrauenskredit der Bevölkerung, der schnell verpuffen kann. Der künftige Präsident muss vermeiden, seine Wähler zu enttäuschen, ihnen eine neue Qualität der Politik zeigen und gleichzeitig einen festen Platz in der ukrainischen politischen Landschaft erkämpfen, um überhaupt regieren zu können. In erster Linie wird Selenksyj im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Herbst zumindest provisorische Bündnisse mit führenden Akteuren zu schmieden versuchen, etwa mit Julia Timoschenko und Wolodymyr Hrojsman. Dies hieße jedoch für ihn eine weitere Integration in die vorhandene elitenpolitische Realität der ukrainischen Gesellschaft.

Dmitri Stratievski
ist stellvertretender Vorsitzender des Osteuropa-Zentrums Berlin.

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