Freitag, 26. April, 2024

Lebendige Erinnerung

Von Yana Rozhdestvenskaya

„Was geschah vor 80 Jahren?“ – über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Ein Gespräch des Deutsch-Russischen Forums

An der Diskussion am 12. Mai nahmen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, Oleg Budnitsky, Direktor des Internationalen Zentrums für Geschichte und Soziologie des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen, Jörg Echternkamp, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg, und Alexej Gromyko, Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften und Korrespondierendes Mitglied der RAdW, teil. Moderiert wurde die Diskussion, die leider noch über Video stattfinden musste, von der Journalistin Gemma Pörzgen.

Den Auftakt der Diskussion bildete eine Rede des deutschen Botschafters in Russland, Géza Andreas von Geyr. Er erklärte, dass es notwendig sei, an dem Prinzip festzuhalten, sich auf Quellen zu stützen, auch wenn es mitunter schmerzhaft sei, und reflektierte über das Problem der Weitergabe der Erinnerung von Generation zu Generation. Für ihn persönlich, so von Geyr, sei die wichtigste Schlussfolgerung aus diesen schrecklichen Zeiten, dass nicht weggesehen oder geschwiegen werden darf, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden – egal, wo es auch geschehen mag.

Matthias Platzeck unterstrich, dass die Rote Armee die Hauptlast der Befreiung Europas von Faschismus und Tyrannei trug. Seiner Meinung nach wurde die Rolle der Roten Armee in Deutschland in jüngster Zeit heruntergespielt und ihre Verdienste unterbewertet. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg werde derzeit für politische Zwecke missbraucht.

Swetlana Alexijewitsch berichtete, wie sie ein Foto von zwei Müttern sah, die ihre Kinder in Kinderwagen vor sich herschoben, und diese Kinderwagen hatten die Form von Panzern, und sie fragte sich, was mit der Erinnerung passiert sein muss, damit man kleine Kinder mit Uniformen ausstaffiert. Das, so Alexijewitsch, sei nicht die Erinnerung, die von diesem schrecklichen Krieg übrigbleiben sollte. Sie habe sich daran erinnert, wie in Belarus Spezialkräfte gegen friedliche Demonstranten vorgingen und Militärfahrzeuge die Straßen blockierten, wie die Demonstranten die Polizei „Faschisten“ nannten, während die Polizei behauptete, „die Demonstranten seien vom Westen gekauft worden“ – und sie dachte wieder: Was ist mit der Erinnerung passiert? Sie betonte, dass, wenn das Einzige, was wir anstelle des Dialogs zustande bringen, darin besteht, uns gegenseitig als „Faschisten“ zu bezeichnen, dann könnte sich ihrer Meinung nach der geistig-ethische Sieg in sein Gegenteil verkehren. Alexijewitsch räumte ein, sie habe sich nicht vorstellen können, dass wir uns jemals gegenseitig so bezeichnen würden. Die Schriftstellerin führte aus: „Wir haben uns unserer Vergangenheit nicht gestellt, wir haben sie gefürchtet, und nun kommt sie in dieser derartig verzerrten Version zurück. Wir sehen ihre Auferstehung, die Metapher dafür sind diese Kinderwagen in Form von Panzern.“ Sie betonte, dass ein gutes Beispiel für die Erinnerung an den Krieg die sogenannten Stolpersteine in Deutschland seien, kleine Messingtafeln in den Gehwegsteinen mit den Namen von Juden, die während des Holocausts in dem betreffenden Haus lebten oder dort umkamen. Sie helfen, der Opfer des Krieges zu gedenken, sie erreichen die Menschen.

Alexijewitsch meinte, dass in jüngster Zeit keine so starken Bücher über den Krieg erschienen seien wie früher: „Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Kunst und Literatur einfach nicht damit zurechtkommen, diese Zeit zu spüren und zu bewältigen, weil sie so außergewöhnlich war.“ Aber Alexijewitsch glaubt auch, dass sich die Literatur aus dieser Asche erheben, von den gegenwärtigen Banalitäten loskommen und noch ein gewichtiges Wort über diese Zeit verlauten lassen werde.

Oleg Budnitsky führte aus, das Thema seiner Forschungen sei, wie der Krieg von gewöhnlichen Menschen, Zeugen der Epoche wahrgenommen wurde. Er versuche, nicht unsere heutige Sicht zu analysieren, sondern wie es damals wahrgenommen wurde. Wenn wir über verschiedene Gesetze und Kommissionen zur Bekämpfung der Geschichtsfälschung sprechen, stelle sich seiner Meinung nach die Frage, was das Maß der Wahrheit sei, wer und wie bestimme, was überhaupt Wahrheit sei? Budnitsky arbeitet mit Tagebüchern aus der Kriegszeit – „die Menschen haben sie geschrieben, ohne zu wissen, ob sie am nächsten Tag noch leben würden, und das hat ihre Tagebücher geprägt. Es gab wenig vom Großen und Ganzen, es war der Alltag von Menschen, die das scheinbar Undenkbare erlebten.“ Seine Position ist, dass man lesen, den Zeugen zuhören sollte, die etwas hinterlassen haben, und darauf, auf den Zeugnissen, sollte unser Verständnis des Großen Vaterländischen Krieges aufgebaut werden.

Jörg Echternkamp sah das etwas anders: Wenn von Erinnerung die Rede sei, müssten die Quellen kritisch interpretiert und dürften nicht so wahrgenommen werden, als spiegelten diese Dokumente die Vergangenheit und die Fakten eins zu eins. Sie sollten als eine private Erinnerung, ein privates Erlebnis, beeinflusst durch die Epoche und andere Umstände, wahrgenommen werden. Dies entkräfte nicht die Tatsache, dass es wichtig sei, die Quellen zu studieren und sie als Teil des Erinnerungsprozesses zu betrachten. Der Zweite Weltkrieg werde wegen seiner Dimensionen, einschließlich des Ausmaßes der Gewalt, und des damit verbundenen Holocausts noch lange in Erinnerung bleiben. Zukünftige Generationen bräuchten einerseits eine rationale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und andererseits eine empathische Wahrnehmung des Krieges, wie etwa die Besuche von kriegsbezogenen Gedenkstätten.

Laut Echternkamp gibt es in West- und Ostdeutschland zwei unterschiedliche Auffassungen von Kriegserinnerungen. In der DDR dominierten die marxistische Geschichtsschreibung und sowjetisch inspirierte Interpretationen. In Westdeutschland waren die Dinge so kompliziert, dass man jahrelang nicht wusste, wie man den 8. Mai nennen sollte – sowohl Tag des Sieges als auch Tag der Niederlage waren unpassende Formulierungen. Im Jahr 1985 sprach der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom Tag der Befreiung. Dies spiegelte jedoch nicht die allgemeine Wahrnehmung der meisten Deutschen wider – natürlich hätten die Deutschen den 8. Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung erlebt –, es sei vielmehr eine programmatische Aussage, eine rückblickende Bewertung gewesen. Wenn vom Ausgangspunkt gesprochen werden sollte, dann sei es nicht der Kriegsbeginn 1939, sondern die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933, und die Frage sei nicht, wie Deutschland zur Niederlage im Krieg kam, sondern wie es überhaupt zu Nationalsozialismus und Krieg kommen konnte.

Alexej Gromyko bemerkte, dass in der ehemaligen Sowjetunion die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs, oder wie er in Russland üblicherweise genannt wird, des Großen Vaterländischen Krieges, sehr persönlich, sehr privat sei. Er stimme zu, dass es so etwas wie Schwarz und Weiß in der Geschichte nicht gebe, meinte aber, dass es unmöglich sei, eine ausschließlich relativistische Herangehensweise an Geschichte zu praktizieren. In Russland sei von fast jeder Familie jemand im Krieg umgekommen oder gefallen, daher gebe es Familientraditionen, die mündliche Weitergabe der Erinnerung und Überlieferungen innerhalb der Familien. In Russland kenne man diese Ereignisse nicht nur aus Filmen oder Büchern. Es sind sehr lebendige Erinnerungen, vielschichtige, ohne Extreme in die eine oder andere Richtung. Insgesamt wüssten und verstünden die Menschen, dass dieser Krieg für Russland heilig war, dass es wirklich um Leben und Tod ging.

Yana Rozhdestvenskaya
Yana Rozhdestvenskaya ist Redakteurin der russischen Tageszeitung *Kommersant*.