Freitag, 29. März, 2024

Die bitteren Erinnerungen sowjetischer Zwangsarbeiter

Von Klaus Grimberg Große Hoffnung, neue Enttäuschung: Militärparade der Sowjetarmee in Kiew (1947).
Bild: picture alliance

Wir haben jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet“, erinnert sich Larissa Schwydtschenko. „Wenn du Nachtschicht hattest, dann bist du zurück und sofort umgefallen. Sie haben gerufen: ‚Es gibt Essen, steh auf!‘, aber du hast einfach die Augen nicht aufbekommen.“ Und Pawel Michailow berichtet: „Wir waren nur noch Haut und Knochen, keine Menschen mehr, sondern Mumien. Keine Ahnung, wie wir uns auf den Beinen halten konnten. Uns hat nur gerettet, dass wir jung waren.“

Solche Worte stehen exemplarisch für hunderttausende Erinnerungsfetzen von sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Rund 3 Millionen Männer und Frauen wurden ab dem Frühjahr 1942 unter Androhung von Gewalt oder Repressalien in von der Wehrmacht besetzten Gebieten der Sowjetunion rekrutiert. Das Durchschnittsalter der Deportierten lag bei etwa 20 Jahren, viele aber waren deutlich jünger, gerade mal 15 oder 16.

Unter den insgesamt etwa 11 Millionen Zwangsarbeitern, die von den Nationalsozialisten zur Arbeit in Deutschland verpflichtet wurden, waren die von der NS-Bürokratie „Ostarbeiter“ genannten Sowjetbürger die weitaus größte Gruppe. Und sie wurden besonders schlecht behandelt. In der Hierarchie der verschiedenen Nationalitäten standen sie ganz unten.

Historisches Interesse am Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter oder gar ein Nachdenken über eine Entschädigung für das erlittene Unrecht setzte in der Bundesrepublik Deutschland erst Ende der 1980er-Jahre ein. Auch in der Sowjetunion war das Schicksal der Zwangsarbeiter über Jahrzehnte verschwiegen worden, während des Stalinismus waren sie sogar als „Landesverräter“ oder „Kollaborateure“ diffamiert worden. Erst im politischen Reform-

klima der Gorbatschow-Ära trauten sich viele der ehemaligen Zwangsarbeiter, über Erlebtes und Erlittenes zu berichten.

1987 hatte sich die Gruppe Memorial in Moskau gegründet. Ihr Ziel war, den Opfern stalinistischen Unrechts endlich Gehör zu verschaffen. Zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland wendete sich Memorial nun auch den Zwangsarbeitern zu. Dabei half eine missverständliche Zeitungsreportage im April 1990, die in weiten Teilen des Landes gedruckt worden war. Wer sich melde und über sein Schicksal berichte, hieß es darin, könne mit einer Rente aus Deutschland rechnen. Binnen kürzester Zeit erreichten Memorial mehr als

400 000 Zuschriften.

Diese Zuschriften und viele daraus motivierte Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern bilden nun ein umfangreiches Archiv zur Geschichte der Ostarbeiter im Nationalsozialismus. Zusammen mit Briefen und Postkarten, Fotos und Dokumenten ergibt sich ein Panorama dessen, was die aus ihrer Heimat verschleppten Männer und Frauen in der Fremde leisten und erdulden mussten. 2017 legte ein russisches Historikerteam einen Dokumentationsband mit vielen verschiedenen Erinnerungsschnipseln aus den Zuschriften und Interviews vor, der jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Der Band zeichnet nicht das Schicksal einzelner Personen nach, sondern er gruppiert die Erinnerungssplitter unter einzelnen Themenblöcken. Einleitend geht es um die Zeit vor der Verschleppung nach Deutschland und um die Deportation. Das Hauptaugenmerk aber liegt auf den Schilderungen des Lebens und der Arbeit in Deutschland.

Zwei Motive sind dabei allgegenwärtig: Die qualvolle Härte der Arbeit und immerwährender Hunger. Zu Übermüdung und Hunger kam ein starkes Gefühl von Heimweh und Verlorenheit. „Ein fremdes Land, eine fremde Sprache, fremde Sitten. Manche Mädchen waren erst 13 oder 14 Jahre alt, eigentlich noch Kinder. Die hatten es besonders schwer“, berichtet Antonia Maxina. Und Wadim Nowgorodow erzählt: „Wir glaubten nicht sehr daran, dass wir jemals nach Hause zurückkehren würden. Wir wollten zurück, hatten Sehnsucht nach der Familie. Außerdem war es schwer, sich damit abzufinden, dass du nicht mehr frei bist.“

Trotz des erlebten Unrechts bildeten sich viele Zwangsarbeiter ein differenziertes Bild über Deutschland und die Deutschen. Gesten des Mitleids wurden sehr genau wahrgenommen: „Wenn ich zurückkam und die Schublade aufmachte, dann lag da immer ein Butterbrot und noch irgendwas drin. Wer es mir reingelegt hat, weiß ich nicht, die Deutschen hatten Angst voreinander“, sagt Tatjana Wesselowskaja. Und Nadeshda Bulawa urteilt: „Wissen Sie, ich bin auch ganz normalen Deutschen begegnet, das waren nicht alles gemeine Schufte. Es gab gute Menschen, auch solche, die uns geholfen haben. Aber die meisten waren doch Faschisten.“

Bitter war für die allermeisten Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter auch die Rückkehr in die Heimat, wo ihnen mit großem Misstrauen und Verdächtigungen begegnet wurde. „Wir merkten sofort: Wir sind Fremde, nicht vollwertig, uns kann man nicht vertrauen. Uns muss man überprüfen, überprüfen und noch mal überprüfen“, erinnert sich Soja Jelissejewa. „Also wurden wir alle überprüft: Wann ausgereist, von wo, mit wem, wer war noch mit, wo waren Sie dort, was haben Sie da gemacht, wann sind Sie zurückgekehrt, wer hat Sie befreit?“

Etliche Zwangsarbeiter bezahlten ihre Zeit in Deutschland mit weiteren Jahren in Straf- und Gefangenenlagern in der Sowjetunion. Oder sie wurden offen benachteiligt, wie es Valentina

Janowskaja erlebt hat: „Wenn ich irgendwo Arbeit suchte, wurde immer gleich gefragt, wo ich während des Krieges war: Im besetzten Gebiet oder in der Evakuierung? Und dann bekam ich so Schlimmes zu hören, dass ich gar nicht mehr leben wollte. Wie oft habe ich bedauert, dass ich überhaupt in die Heimat zurückgekehrt bin.“

Klaus Grimberg
ist freier Journalist in Berlin.

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