Freitag, 29. März, 2024

Sänger und Kaiser

Von Peter Koepf

Es ist eine wiederkehrende Frage, wenn Deutsche und Russen zusammenkommen: Kann Europa mit einem Staat zusammenarbeiten, der offensichtlich nicht dem Club der Multilateralisten angehört und sich nicht an einem international verbindlichen System aus Rechten und Pflichten orientieren will, sondern seine Politik ausschließlich an den eigenen Interessen ausrichtet? Gemeint sind nicht die USA. Auf den Punkt gebracht lautet die Frage vielmehr: Gehört Russland zu Europa?

Leonid Mletschin, TV-Reporter und einer der Autoren dieser Zeitung sowie zahlreicher Bücher, gibt darauf eine fulminante, durchaus auch empörte Antwort: Reiche Russen schicken ihre Kinder zum Studieren nicht nach Peking, sondern nach Europa und in die USA; sie kaufen Immobilien nicht in Indien, sondern in Europa. Ihre Kranken lassen sie in der Berliner Charité operieren und die Gesunden wollen leben wie in Frankreich oder Deutschland, in einem liberalen, freiheitlichen System mit einer funktionierenden Wirtschaft.

„Ein normaler Russe“, sagte er im Mai anlässlich eines Treffens der Arbeitsgruppe Medien des Gesprächsforums Petersburger Dialog, „ist ein Europäer.“ Und er rief als Zeugen Dostojewski auf, wonach jeder seiner Landsleute die Fähigkeit erlangt habe, „gerade dann im höchsten Grade Russe zu werden, wenn er im höchsten Grade Europäer sei“.

Die Enttäuschung bei den heutigen Zapadniki, den westorientierten europäischen Russen ist groß, wenn ihre liberalen, demokratischen Freunde im Westen Russlands Außenpolitik als aggressiv und als Großmachtdenken verurteilen, und die Verletzung von Menschenrechten anprangern: Gewalt von Staatsorganen und willkürliche Verhaftungen bei friedlichen Demonstranten, monatelange Untersuchungshaft für kritische Künstler, unaufgeklärte Morde an Regierungskritikern, inhaftierte Journalisten, Denunziation von NGOs und Kulturstiftungen als „ausländische Agenten“ und Anklage und Verurteilungen von Menschen wegen „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“.

Liberale und demokratisch gesinnte Russen haben es schwer mit ihren Freunden im Westen. Ihr Nationalstolz ist berührt, wenn jene von Annexion sprechen und die Sanktionen gegen ihr Land für richtig halten. Und im Innern müssen Opponenten, Andersdenkende und -lebende staatliche Sanktionen einkalkulieren. Was das bedeutet, wissen wir im Westen nicht (mehr).

Für Deutsche und Westeuropäer sind Staat und Gesellschaft zwei getrennte Sphären. Politiker formen den Staat, Künstler und Journalisten verstehen ihre Aufgabe nicht darin, diesen Staat zu stützen, sondern ihn und seine Repräsentanten zu hinterfragen. Für ihre russischen Gesinnungspartner sieht das anders aus. Einer von ihnen fasste sein Verständnis bezüglich der Freiheit des Worts und der Kunst allgemein kürzlich mit folgendem Sprichwort zusammen: „Der Sänger und der Kaiser schaffen den Staat.“ Gemeinsam, wollte er sagen, nicht als Antagonisten.

Wer nicht mit dem Staat ist, ist gegen ihn? Ist das vorauseilender Gehorsam eines Menschen, der die Grenzen des Erlaubten akzeptiert? Oder ist es die Manifestation einer grundsätzlich anderen Kultur? Nur wenn Letzteres zuträfe, gehörte Russland nicht zu Europa.

Peter Koepf
ist Chefredakteur dieser Zeitung.

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