Donnerstag, 25. April, 2024

Respektvoll sich gegenseitig die Wahrheit sagen

Von Anastasya Manuilova

Von Angesicht zu Angesicht: „Potsdamer Begegnungen“ in angespannter Atmosphäre

Obwohl Berlin immer noch für Ausländer gesperrt war, fanden die deutsch-russischen „Potsdamer Begegnungen“ zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder als Präsenzveranstaltung statt. Doch für die Spannung bei diesen „Begegnungen“ war weniger die Pandemie als vielmehr der Vertrauensverlust in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland verantwortlich.

In der Tat hat dieses Treffen von Politikern, Vertretern der Wirtschaft und Politikwissenschaftlern in den 25 Jahren des Bestehens der „Potsdamer Begegnungen“ bislang noch nie vor dem Hintergrund einer derartig skeptischen Haltung beider Länder zueinander stattgefunden. „Wir befinden uns in einer Eskalationsspirale“, stellte Matthias Platzeck, Ko-Vorsitzender der „Begegnungen“ fest und betonte: „Wir können nicht aus ihr herauskommen, wenn wir uns gegenseitig als Gegner sehen.“ Dieser Einschätzung schloss sich auch Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, an: „Dies ist die komplizierteste Situation zwischen unseren Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle haben Fehler gemacht.“

Der Auftakt der Konferenz verlief in einer angespannten Atmosphäre. In den Grußansprachen der Außenminister Heiko Maas und Sergej Lawrow kam es zu einem Austausch von Anschuldigungen über die Unterdrückung der russischen Zivilgesellschaft, die Verfolgung von Oppositionellen, die Absurdität dieser Vorwürfe gegenüber Moskau und die offen antirussische Haltung der deutschen Medien. Beide Minister betonten jedoch, dass die Probleme nicht durch Schweigen gelöst werden könnten und dem gesellschaftlichen Dialog in dieser zwischenstaatlichen Situation eine besondere Rolle zukomme. Seine Mechanismen wurden übrigens als allwettertaugliches Instrument angelegt.

Die deutschen Teilnehmer beriefen sich erwartungsgemäß auf den Eckpfeiler der Politik des einstigen Bundeskanzlers Willy Brandt – die Aussöhnung mit dem Osten. Weshalb war diese Politik Anfang der 1970er-Jahre erfolgreich und soll jetzt nicht mehr greifen können? Umso mehr, da sich Deutschland kulturell und wirtschaftlich schon immer nach Osten orientiert hat und längst zu einer Quelle der Modernisierung Russlands geworden ist.

In vielen Reden wurden direkte und indirekte Antworten auf diese Frage gegeben. So verband zum Beispiel Konstantin Kossatschow, der stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates, die Suche nach politischer Befriedung mit einem direkten Dialog zwischen den europäischen Ländern ohne eine OSZE-Vermittlerrolle. Der EU-Botschafter in Russland, Géza Andreas von Geyr, sprach über unzureichende positive Informationen in Russland über Europa und darüber, welche Bedeutung die feindselige Rhetorik gewonnen hat. Das Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Roderich Kiesewetter (CDU), schlug vor, dass mit der Vertrauensbildung in erster Linie beim Militär begonnen werden sollte. Als Ratschlag wurde der außenpolitische Berater Helmut Kohls, Horst Teltschik, zitiert: „Der Phantasie in der Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen sind keine Grenzen gesetzt.“

Es würde sich nicht lohnen zusammenzukommen, wenn wir uns nicht in einem respektvollen Ton die Wahrheit sagten. Akademiemitglied Alexander Dynkin unterstrich: „Russland ist der europäischen Schulmeisterei leid. Seinerzeit, bei der Unterzeichnung der Charta von Paris, hatte Moskau geglaubt, es könne sich in die Welt einfügen und dabei seine unabhängige Militär- und Außenpolitik beibehalten. Das hat nicht funktioniert. Die harte Schule hat die Illusionen im Kreml zerstört.“ Eines, so der Redner, sei absolut unverständlich: Warum arbeite der Westen auf die Ausweitung des gemeinsamen Raums zwischen Moskau und Peking hin?

Als darüber gesprochen wurde, dass die Beziehungen zu Moskau ein sehr spezielles Thema seien, erinnerte sich einer der Teilnehmer daran, wie nach der Ankunft in Kamtschatka der lokale Gouverneur die Reisegruppe mit den Worten begrüßte, dass sie nach dem zehnstündigen Flug über Russland jetzt vielleicht verstehen würden, dass man ihnen uns nicht auf die gleiche Weise zusammenarbeiten könne wie etwa mit Luxemburg.

Wahrscheinlich war es den innerdeutschen Debatten und nicht der russischen Propaganda geschuldet, dass die deutschen Kollegen bisher so eindeutig wie nie zuvor über die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und deren Ursachen sprachen. Ischinger räumte ein, dass die EU im Gegensatz zu Russland nicht in der Lage sei, ihre militärischen Interessen selbst zu vertreten. Ohne transatlantische Partnerschaft würde die EU scheitern. Ohne amerikanische Partner sei ein rein europäisches militärisches Dach bisher nicht möglich. „Wir sollten verstehen, dass wir Europäer die Partnerschaft mit den USA nicht aufgeben können und wollen. Ohne die USA und Kanada ist europäische Sicherheit nicht möglich“, betonte auch von Geyr.

Allerdings muss festgehalten werden, dass von deutschen Teilnehmern auch Selbstkritik zu hören war. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Johann Wadephul sprach davon, dass man leider die Stimmung Moskaus nicht erkannt habe, als man den Beitritt vieler osteuropäischer Länder zur Nato unterstützte. Bei Prüfung der Anträge von Georgien und der Ukraine wurde jedoch bislang Augenmaß bewiesen. Noch radikaler äußerte sich der Bundestagsabgeordnete der Linken Alexander Neu: „Eine Konfrontationslinie mit Russland entspricht nicht den deutschen Interessen; das Land braucht keine ‚Kriegsspiele im Sandkasten’, sondern Kooperation auf genau diesem Feld“.

Was wir in Russland nicht verstehen, ist, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft in letzter Zeit um die „grüne Idee“ konsolidiert hat. Die vergangenen anderthalb Jahre Pandemie haben ihr sicherlich einen weiteren Schub verliehen, wenn es auch keinen direkten Zusammenhang gibt. Wirtschaftsminister Peter Altmaier erklärte: „Wir werden schrittweise aus den fossilen Energieträgern aussteigen. In ein paar Jahren wird das auch das Gas betreffen. Wir entwickeln jetzt die Zusammenarbeit beim Blauen Wasserstoff, möglicherweise könnte man ihn über das bestehende Pipelinesystem aus Russland nach Europa importieren.“ Johann Saathoff, ostpolitischer Sprecher des Auswärtigen Amtes, pflichtete dem Minister bei und verwies darauf, dass Deutschland in 30 Jahren keine fossilen Energieträger mehr verbrennen werde. Dabei seien 30 Jahre eine kurze Zeitspanne. Denkt Russland an sein enormes Wind- und Wasserkraftpotenzial? Könnte Deutschland helfen, es zu erschließen?

Im Zuge der Gespräche nahm der Umweltschutz die Teilnehmer der „Begegnungen“ derart gefangen, dass Marija Ruzhitskaya, die im Namen des russisch-deutschen Jugendparlaments sprach, mit leichter Ironie bemerkte: „Ich habe den Eindruck, dass der Einsatz von Wind- und Sonnenenergie alle Probleme zwischen unseren Ländern lösen könnte.“ Hinsichtlich der praktischen Umsetzung bleibt die „grüne Thematik“ in der Tat etwas hinter anderen Feldern zurück. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage unter deutschen Unternehmern, in welchen Bereichen der russischen Wirtschaft sie das größte Wachstumspotenzial sehen, lagen die Internettechnologien an der Spitze.

Im Unterschied zu einigen anderen Rednern sagte Michael Harms, der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft: „Wir können uns nicht über mangelnden Dialog in Russland beklagen. Im Gegenteil, die Regierung dort ist jetzt recht offen. Aber politische Probleme haben dazu geführt, dass langfristige Investitionen in Russland für unsere Wirtschaft schwierig sind, zumal die Regierung offenen Protektionismus betreibt. Es gibt zu viel staatlichen Einfluss, man setzt zu stark auf Öl und Gas.“

 Die Notwendigkeit, die Beziehungen zu normalisieren, war eine der Schlussfolgerungen fast aller Reden. Wladimir Grinin, ehemaliger Botschafter in Deutschland, erinnerte daran, dass heute sechs Millionen Russen und Russlanddeutsche in Deutschland leben. Die Teilnehmer sprachen auch über ihre besondere Verantwortung gegenüber den jungen Menschen. Mikhail Shvydkoy, Sonderbeauftragter des Präsidenten der Russischen Föderation, bemerkte hierzu: „Wir müssen sie nicht dazu bringen, einander zu lieben. Aber wir müssen ihnen ein Verständnis füreinander vermitteln.“

Die Pandemie führte einen neuen Begriff in die Debatten darüber ein, was getan werden muss, um die Beziehungen zu normalisieren und eine neue Annäherung herbeizuführen – „weiße Kooperation“, die Zusammenarbeit auf medizinischem Gebiet. Akademiemitglied Dynkin skizzierte die Bandbreite dessen, was in der gegenwärtigen Phase der Beziehungen getan werden kann und sollte: sich von zu hohen Erwartungen lösen, extreme politische Kräfte auf beiden Seiten nicht unterstützen, im Kampf gegen aktuelle und zukünftige Pandemien eng zusammenarbeiten und die Wirtschaft in jeder Hinsicht unterstützen.

Nach dem Verlauf der Potsdamer Begegnungen zu urteilen, kann man sich kaum vorstellen, dass die offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern extrem angespannt sind. „Unsere Treffen zeichnet ein besonderer Humanismus aus“, resümierte Leonid Drachevsky, Ko-Vorsitzender und Exekutivdirektor der Gorchakow-Stiftung, „es war eine Lektion in guten Verhaltensregeln“.

Politik & Wirtschaft