Freitag, 19. April, 2024

Nie wieder!

Von Detlef Prinz

Der 22. Juni 1941 ist bis heute ein historisch-politischer Schlüsseltag im Verhältnis von Russland und Deutschland. An diesem Tag, an den sich vor allem Russinnen und Russen erinnern als Beginn ihres Großen Vaterländischen Krieges, überfiel die deutsche Wehrmacht ohne Kriegserklärung auf breiter Front und mit insgesamt 3,3 Millionen Soldaten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer die Sowjetunion.

Die unmittelbaren Folgen dieses beispiellosen Vernichtungskrieges von Nazi-Deutschland gegenüber Russland waren monströs und bis dahin fast nicht vorstellbar. Fast 10 Millionen russische Soldaten und mehr als 14 Millionen russische Zivilisten verloren in diesem Krieg, der sich nach dem deutschen Überfall vor 80 Jahren zum Zweiten Weltkrieg auswuchs, ihr Leben. Dass sich – fast mythisch überhöht – dieser Krieg in das kollektive russische Gedächtnis als Großer Vaterländischer Krieg eingegraben hat, überrascht nicht: Es ging von Kriegsbeginn an um das staatliche und physische Überleben Russlands, weil die Nazis die Eroberung und Auslöschung wollten.

Für uns Deutsche hatte dieser grausame Vernichtungskrieg, in dem verbrannte Erde und unbeschreibliche Gräueltaten das Kriegsgeschehen bis zur Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 bestimmten, ebenso politische wie auch wirtschaftliche, menschliche, gesellschaftliche und territoriale Folgen: Unser Land wurde geteilt, Familien zerrissen und getrennt, fast unüberwindliche Mauern und Zäune errichtet. Für unseren Kontinent noch gravierender: Europa erlebte eine Teilung, die rund vier Jahrzehnte anhielt. Ein halbes Menschenleben.

Dass sich für uns Deutsche dieses von zwei Weltkriegen zerschnittene Jahrhundert, für deren politische Initiatoren und Auslöser wir verantwortlich waren, am Ende noch glücklich mit der Wiedervereinigung fügte, haben wir unseren ehemaligen Kriegsgegnern zu verdanken. Es war Michail Gorbatschow, der die friedliche Vereinigung Deutschlands ermöglichte. Und es war mehr als zehn Jahre später sein Amtsnachfolger als Präsident, Wladimir Putin, der den Deutschen in seiner viel beachteten Rede im Bundestag weitreichende Angebote zur Zusammenarbeit machte. Tempi passati.

Dass wir in überaus anstrengenden Zeiten leben, die Welt schon vor geraumer Zeit sprichwörtlich aus den Fugen geraten ist, die Herausforderungen politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich enorm sind und von Regierenden und Regierten alle Kräfte in Anspruch nehmen (werden) – niemand, der Augen und Ohren in dieser Welt hat, wird dies bestreiten. Und dass die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland schon mal weitaus besser waren – auch das steht außer Frage.

Uns Deutsche können die aktuellen Ereignisse und Entwicklungen in Russland, vor allem die politischen Vorstöße gegen zivilgesellschaftliche Organisationen nicht kalt lassen. Und wir werden gegenüber der russischen Regierung, aber auch gegenüber unseren russischen Freunden diese Vorkommnisse auch klar benennen. Wenn wir das nicht täten, würden wir uns nicht nur untreu als Demokraten – auch die russische Seite würde uns Engagement als Wertegemeinschaft, die längst eine europäische ist, als zahnlos begreifen.

Gleichwohl: Wir müssen alles tun, damit es nicht zu einem neuen „Kalten Krieg“ oder einer Eiszeit im 21. Jahrhundert in anderer Gestalt kommt. Ich bin fest überzeugt: Ohne Dialog, ohne Gespräche und den Austausch unterschiedlicher Positionen kann es langfristig keine – wie auch immer geartete – friedliche Koexistenz geben. Und ich weiß sehr wohl, dass wir mit gemeinsamen Publikationen wie der hier vorliegenden nicht das Weltgeschehen erschüttern. Aber wir bleiben im Gespräch und bekunden Respekt anlässlich eines Tages, der Russland und Deutschland für immer historisch verbindet.

Für mich ist der 22. Juni 1941 ein Tag doppelten Gedenkens. Ich denke an diesen sinnlosen, mörderischen Krieg zwischen den Völkern, der neben den unmittelbaren Folgen für unzählige Menschen unvorstellbares Leid bis in die übernächste Generation getragen hat. Aber ich weiß zugleich, was die historische Aufgabe von uns Deutschen ist, die Willy Brandt 1969 in seiner ersten Regierungserklärung in den Satz gegossen hat: „Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein.“ Wenn wir aus der Vergangenheit wirklich etwas gelernt haben als Deutsche, dann ist es genau das, was dieser erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik Deutschland für uns Deutsche stellvertretend zum Ausdruck gebracht hat und was bis heute nachwirkt und gilt: Nie wieder darf sich in Europa so ein Krieg wiederholen. Nie wieder!

Detlef Prinz
ist Verleger dieser Zeitung.

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