Freitag, 19. April, 2024

Weshalb KGB und Stasi die Revolution verschliefen

Von Leonid Mletschin

Die sowjetischen Diplomaten und Aufklärer in Berlin unterschätzten am 9. November 1989 die Bedeutung der Pressekonferenz des Mitglieds des Politbüros und Ersten Sekretärs der Partei-Bezirksleitung der Hauptstadt Berlin, Günter Schabowski. Auch als die Ostdeutschen zu den Grenzkontrollstellen strömten, die die Stadt trennten, schlug niemand Alarm. Der Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow erfuhr vom Fall der Berliner Mauer erst am nächsten Morgen. Aber noch immer sah niemand, dass das sozialistische Deutschland bald verschwinden würde.

Dabei hatte es doch keinen Lebensbereich in der DDR gegeben, den die sowjetische Aufklärung nicht beobachtet hätte. Jahrzehntelang hatte der in Ostdeutschland operierende Apparat eine Unmenge von Informationen nach Moskau gemeldet, selbst kleinliche Intrigen innerhalb des Politbüros des ZK der SED. Täglich um sechs Uhr morgens kabelten Moskaus Spione Berichte über die Lage in Berlin via HF-Regierungsleitung nach Moskau.

Weshalb konnte die sowjetische Aufklärung, der in Ostdeutschland doch alle operativen Möglichkeiten offenstanden, den baldigen Zusammenbruch der DDR nicht vorhersagen?

Die KGB-Vertretung in der DDR war der größte Apparat der Staatssicherheit im Ausland. Dort stand schließlich die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte und sie musste, im professionellen Sprachgebrauch, „betreut“ werden, es galt dafür zu sorgen, dass die Offiziere der UdSSR nicht angeworben wurden und nicht in den Westen flüchten konnten. Außerdem nutzten die Aufklärer die DDR als Ausgangspunkt für die Infiltration der Nato und das Anwerben von Amerikanern auf dem Gebiet Westdeutschlands. Eine weitere Aufgabe bestand in der Beschaffung von Informationen über das Verhalten der Freunde, der Ostdeutschen.

Und natürlich sollten die Kundschafter kundschaften. Doch die Ostdeutschen schirmten sich ab und beschränkten die Informationen über ihre Geheimoperationen auf das Allernötigste. Sie behielten viele Bereiche ihrer Tätigkeit geheim, in erster Linie vor den sowjetischen Freunden.

Formal war es den KGB-Angehörigen verboten, Informanten unter den 
DDR-Bürgern anzuwerben. Im ZK der KPdSU hatte man entschieden, es gehe nicht an, die Brüder aus dem sozialistischen Lager auszuspionieren. Deshalb wurden in den sozialistischen Ländern Aufklärungsabteilungen aufgebaut, über die die Freunde nicht informiert wurden. Der KGB-Vorsitzende Juri Andropow hatte angewiesen, für diese Aufgabe die besten Mitarbeiter der Auslandsaufklärung abzustellen.

In den letzten Jahren des Bestehens der DDR entstand im Aufklärungsapparat der KGB-Vertretung eine operative Gruppe, die sich ausschließlich auf die Analyse der innenpolitischen Situation in Ostdeutschland konzentrierte. Soweit bekannt, wurden in der Gruppe Aufklärer eingesetzt, die den Deutschen nicht offiziell als KGB-Mitarbeiter vorgestellt worden waren, also Leute, die unter dem Deckmantel ‚Journalist‘ oder ‚Geschäftsmann‘ tätig waren.

Der Minister für Staatssicherheit der DDR Erich Mielke verbat sich eine Einmischung der sowjetischen Kollegen in seine Angelegenheiten. Somit gingen die Mitarbeiter der KGB-Vertretung in Berlin davon aus, dass die Deutschen sie beobachteten und ihre Telefongespräche und ihre Wohnungen abhörten.

„Wir taten, was notwendig war“, sagt General Viktor Budanov, erster Stellvertreter des Chefs der KGB-Vertretung der UdSSR in der DDR. „Aber wir legten unsere Arbeit gegenüber den Ostdeutschen nie vollständig offen. Ebenso, wie diese leider uns gegenüber. Das zeigte sich in den letzten Jahren immer deutlicher. Mehr noch, es gab sogar eine Zeit, in der wir den Verdacht schöpften, dass sie uns beobachten.“

Doch weshalb beobachteten die deutschen Freunde ihre großen Brüder?

„Weil sie befürchteten, dass wir mit ihren Leuten arbeiten würden. Das war nicht unbegründet. Aber was wir taten war keine Verletzung der Abkommen über den Status der KGB-Vertretung in Berlin, die zwischen dem KGB und dem MfS [Ministerium für Staatssicherheit] unterzeichnet worden waren.“

Die Deutschen waren dennoch verärgert und rächten sich, indem sie die sowjetischen Tschekisten bloßstellten. Wenn jemand zum Trinken neigte oder einen Seitensprung beging, informierten die Deutschen die sowjetische Botschaft und freuten sich, wenn der in Misskredit geratene KGB-Mitarbeiter innerhalb von 24 Stunden nach Hause geschickt wurde.

Die deutschen Tschekisten hatten ein Auge nicht nur auf ihre sowjetischen Kollegen, sondern auch auf den sowjetischen Botschafter. Diese Sache betreute Mielke persönlich. Der Botschafter in Berlin Wjatscheslaw Kotschemassow erzählt davon:

„Ich wusste, wann Mielke mich aufzeichnete und wann er die Aufzeichnung beendete. Anfangs verfolgte er jeden meiner Schritte. Er wusste immer, wo ich gerade bin. Wenn ich nach Wünsdorf ins Hauptquartier unserer Streitkräfte fuhr, wusste er genau, wohin und zu wem ich fahre, wie lange ich dort war und wann ich nach Berlin zurückkam. Einmal brüstete er sich sogar damit, dass er alles über mich wisse. Deshalb war ich im Umgang mit ihm sehr vorsichtig.“

Das Ministerium für Staatssicherheit hatte den sowjetischen Botschafter also ständig im Visier?

„Er hatte seine eigenen Methoden der externen Beobachtung“, schmunzelte Kotschemassow. „Das war ein höchst kompliziertes System. Eine solche Aufklärung und Gegenaufklärung wie in der DDR muss man lange suchen.“

Das größte Geheimnis der DDR-Führung waren die vertraulichen Beziehungen zur Bundesrepublik. Bereits Ende der 1970er-Jahre berichtete der sowjetische Botschafter in Bonn, Valentin Falin, über intensive Kontakte zwischen den beiden Deutschlands, die Moskau bis dato unbekannt geblieben waren: „Außer den ganz aktiven wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der BRD gibt es in beiden Richtungen einen unsichtbaren, aber intensiven Austausch, und zwar in allen Bereichen – Gewerkschaften, Wissenschaft, Technik, Kultur. Aber besonders wichtig sind die persönlichen und familiären Beziehungen sowie die supergeheimen Parteibeziehungen“, so Falin. „Täglich reisen dutzende, hunderte Emissäre mit unterschiedlichen Aufträgen hin und zurück. In erster Linie wurde das vor uns geheim gehalten. Bemerkenswert ist, dass die DDR sich hartnäckig weigerte, unser GOST-System zu übernehmen. Sie hielt am westdeutschen, gesamteuropäischen Standard-System fest.“

Einer der besten Deutschlandkenner, Alexander Bogomolov, der abwechselnd im Apparat des ZK der KPdSU und in der Botschaft in Ostberlin tätig war, vertrat die Meinung, Erich Honecker sei niemals ein Freund der Sowjetunion gewesen. Sein Verhalten gegenüber Leonid Breschnew und dessen Mitarbeitern sei völlig neutral gewesen. Sein Ziel sei gewesen, das Lebensniveau in der DDR mit Geld aus Westdeutschland zu verbessern.

Nach kritischen Bemerkungen von Falin über Honecker, die er im engsten Kreis der eigenen Leute gemacht hatte, wurde er selbst von den Geheimdiensten der DDR unter Beobachtung gestellt. Die sowjetischen Aufklärer warnten den Botschafter, er solle akkurater sein und nicht vergessen, dass er im Fadenkreuz der Beobachtung stehe. Moskau standen jedoch keine Mittel der Einflussnahme auf Berlin mehr zur Verfügung.

Im Juni 1987 kam der Chef der sowjetischen Aufklärung, Wladimir Krjutschkow, nach Dresden. Er interessierte sich für Hans Modrow, den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, einen aussichtsreichen Politiker, dem eine große Zukunft vorausgesagt wurde.

Hans Modrow erinnert sich: „Markus Wolf, der zu dieser Zeit seinen Dienst bei der Aufklärung bereits quittiert hatte, fragte mich, ob ich mich nicht mit Krjutschkow bei einem freundschaftlichen Abendessen treffen möchte. Ich war kein Dissident, kein Abtrünniger oder Abweichler. Mich empörte der zunehmende Formalismus, deprimierte die Atmosphäre der Unterwürfigkeit und das Propagandageschrei. Der Staat der hängenden Köpfe, der schweren Augenlider, der verschlossenen Münder, der stummen Zungen, der herabhängenden Schultern. Die Staatssicherheit erhielt den Auftrag, meine Beziehungen zur KPdSU aufmerksam zu beobachten. Ich merkte das an den kritischen Bemerkungen Erich Honeckers zu meinen ‚übermäßig leidenschaftlichen’ Kontakten zu Leningrad, die angeblich meine Sicht auf die UdSSR und die Perestroika vernebelten. Woher konnte er wissen, was ich wo gesagt hatte?“

Hans Modrow unterhielt gute Beziehungen zu den sowjetischen Genossen, was in der DDR-Führung keinen Gefallen fand. „Ich spürte“, erzählt er weiter, „dass ich beobachtet wurde, dass man herausfinden wollte, wie ich diese Kontakte wahrnehme und was bei diesen Treffen diskutiert wird.“

Für die Beobachtung von Modrow wurde General Horst Böhm, ein rigoroser und streng linientreuer Offizier der Staatssicherheit, nach Dresden abkommandiert. Modrow erinnert sich: „Mir schien, Böhm hält mir ständig einen Spiegel vor und sagt: Schlecht ist es um dich bestellt, mein Freund.“

Modrow konnte die sowjetische Botschaft in Ostberlin nicht offen aufsuchen, da sie unter Beobachtung der deutschen Geheimdienstler stand. Er verließ sein Fahrzeug in einer der Straßen von Berlin und ließ sich von dem Botschaftsgesandten Wsewolod Sowwa abholen. Sowwa, so berichtet er, brachte Modrow mit seinem Fahrzeug mit Diplomaten-Kennzeichen heimlich in die Botschaft. Der Gast wurde in die Sauna der Botschaft geleitet, wo dann die Lage in der DDR freimütig diskutiert wurde.

Die KGB-Vertretung der UdSSR für die Koordinierung der Beziehungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR war in den Räumen eines ehemaligen Krankenhauses in Berlin-Karlshorst untergebracht. Die KGB-Mitarbeiter belegten dort einen großen, mit Stacheldraht gesicherten und gut bewachten Gebäudekomplex.

Die sowjetischen Genossen waren von den deutschen Kollegen materiell abhängig, berichtet der damalige stellvertretende Leiter der Ostberliner Residentur des KGB, Oberst Iwan. Das MfS hatte in Berlin eine geschlossene Einkaufsmöglichkeit für die sowjetischen Tschekisten eingerichtet. Außerdem stellte die Wirtschaftsabteilung des MfS viele Frauen der sowjetischen Geheimdienstler ein, die ihren Verdienst und darüber hinaus Prämien in DDR-Mark erhielten und die Familien diese zusätzliche Einnahmequelle sehr zu schätzten wussten. Das brachte sie in Abhängigkeit von den deutschen Tschekisten.

„Besonders starker Beeinflussung waren unsere Verbindungsoffiziere im Mielke-Ministerium ausgesetzt. Sie wurden ständig zu Prestige-Veranstaltungen oder zur Jagd eingeladen, mit Privilegien ausgestattet und erhielten Geschenke zu den verschiedensten Anlässen“, erinnert sich Kusmin und setzt die Aufzählung fort: „Üppige Bewirtungen, Passierscheine in die Diplomaten-Klinik, Genehmigung zur Nutzung von MfS-Sonderflügen.“

Der Dienst in der DDR galt als angenehm und einträglich. Besonders wurden Dienststellungen geschätzt, die Besuche in Westberlin mit seinen Geschäften, Restaurants und Kinos erlaubten. Doch solche Glückspilze gab es nicht viele.

„Für die Mehrzahl der Sowjetbürger, die in der DDR arbeiteten, blieb Westberlin tabu, mit Ausnahme derjenigen, die beim Geheimdienst angestellt waren“, erinnert sich der Diplomat Juli Kwizinski, später Erster Stellvertreter des Außenministers der UdSSR. „Auch unseren Diplomaten, darunter selbst jenen, die in der Botschaft in der für Westberlin zuständigen Gruppe tätig waren, wurde nicht besonders gern die Genehmigung für Besuche in Westberlin erteilt. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, Westberlin sei ein Spionagenest.“

Ein ehemaliger Chef der Auslandsaufklärung erzählt, dass jeder Besuch Mielkes in Moskau zu einem Ereignis wurde. Er reiste immer mit großen Vorräten an Wurst und Bier an und gab üppige Empfänge. Mielke liebte es, Auszeichnungen entgegenzunehmen. Diese kleine Schwäche wurde in Moskau goutiert – insgesamt erhielt er sechsmal den Lenin-Orden und einmal den Goldenen Stern eines Helden der Sowjetunion.

Der Minister hielt sich für den besten Freund der Sowjetunion, doch gegenüber den Mitarbeitern der KGB-Vertretung, besonders zu jenen, die kein Deutsch konnten, verhielt er sich gönnerhaft, mitunter auch geringschätzig. Mielke wurde gebeten, eine Rede vor einer großen Gruppe von Offizieren aus der Verwaltung der Sonderabteilungen (KGB-Abteilungen) der Gruppe der Streitkräfte sowie Vertretern der Spionageabwehr der Armee zu halten. Er redete mit einer kleinen Unterbrechung drei Stunden lang und verfolgte aufmerksam die Reaktionen der Zuhörer. Als der Oberkommandierende der Streitkräftegruppe und der Chef der KGB-Vertretung ihn einluden, ein Gläschen zu trinken, bemerkte der Minister pikiert: „Ich denke, einige Ihrer Offiziere verstehen einfach nichts.“

Mielkes Philosophie war laut Markus Wolf, ehemals Chef der DDR-Aufklärung: „Die Staatssicherheit muss alles wissen, was im Land passiert, kein einziger Bereich, einschließlich Partei und deren Führungsorgane, unterstand nicht ihrer Obhut“. Er installierte ein fast perfektes System der Überwachung des eigenen Volkes. Aber die Revolution im eigenen Land erkannte niemand. Die DDR verschwand innerhalb weniger Tage.

Das hatte gerade von der DDR niemand erwartet. Sie war der wirtschaftlich erfolgreichste sozialistische Staat. Die sowjetischen Führer reisten gern nach Ostdeutschland, um nach ihrer Rückkehr triumphierend ausrufen zu können: „So funktioniert das sozialistische Modell!“

Und plötzlich verschwand der sichtbare Beweis für die Richtigkeit der fortschrittlichen Ideen von der politischen Weltkarte. Das geschah nicht durch höhere Kräfte. Die Menschen wollten sich einfach nicht mehr mit den Lebensumständen abfinden, sie hatten genug vom sozialistischen Regime. Sie gingen auf die Straße und forderten Veränderungen und Freiheit.

Die deutschen Tschekisten hielten an der Überzeugung fest, es handle sich um feindliche Handstreiche, bezahlt von den imperialistischen Geheimdiensten, und suchten nach ausländischen Agenten. Die Polizei und Mitarbeiter der Stasi in Zivil entrissen den Demonstranten Plakate, machten Jagd auf die Anführer.

Genauso beurteilten auch die sowjetischen Aufklärer in Ostberlin die Ereignisse. So wurde der 9. November vor 30 Jahren für sie zu einer großen Überraschung.

Als in Ostberlin die revolutionären Veränderungen begannen, stand Modrow an der Spitze der neuen DDR-Regierung. General Horst Böhm aber gelang es nicht, seine Stadt, Dresden, unter Kontrolle zu halten. Am 5. Dezember 1989 stürmten die Massen das Gebäude der Bezirksverwaltung der Stasi. Sie stießen auf keinen Widerstand. Ein Teil der Menge überquerte die Straße und versuchte, in das Gebäude einzudringen, in dem die sowjetischen Tschekisten residierten. Ein junger Offizier trat vor die Menge. Die Dresdener erinnern sich gut an seine Worte: „Versuchen Sie nicht hier einzudringen. Meine Genossen sind bewaffnet und haben das Recht, im äußersten Notfall die Waffe zu gebrauchen.“

Dieser junge Mann war Oberstleutnant Wladimir Putin, der zur damaligen Zeit in der Gruppe der sowjetischen Verbindungsoffiziere bei der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit diente. Die Menge stoppte. Danach schickte der Kommandeur der in der Nachbarschaft stationierten sowjetischen 1. Gardepanzerarmee Soldaten zum Schutz der KGB-Vertretung. Man kann annehmen, dass der zukünftige Präsident sich für immer an diesen Tag erinnern wird, an dem vor seinen Augen in wenigen Stunden ein scheinbar unerschütterliches politisches System zusammenbrach und ein ganzes Land von der Weltkarte verschwand.

Leonid Mletschin
ist ein vielfach ausgezeichneter russischer Print- und Fernsehjournalist sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter zeithistorische Werke und eine Breschnew-Biografie. Er lebt in Moskau.