Donnerstag, 18. April, 2024

Was es heißt, die Wahrheit zu sagen

Von Anselm Bühling

Ein Ereignis: Wassili Grossmans großer Roman *Stalingrad* erscheint zum ersten Mal in seiner rekonstruierten Fassung auf Deutsch

1943 beginnt der Schriftsteller Wassili Grossman mit der Arbeit an einem monumentalen Romanwerk. Es spielt vor dem Hintergrund des Deutsch-Sowjetischen Krieges, der zu dieser Zeit noch mitten im Gange ist. Die Handlung setzt im April 1942, fünf Monate vor der Schlacht um Stalingrad, ein und endet ein Jahr später, zwei Monate nach der Kapitulation der 6. Armee unter General Friedrich Paulus.

Grossman arbeitet insgesamt siebzehn Jahre lang an dieser Geschichte. Er erzählt sie in zwei Romanen, die jeweils mehr als tausend Seiten umfassen. Es soll Jahrzehnte dauern, bis sie als zusammenhängendes Werk zugänglich werden: In der Sowjetunion kann der zweite Band, Leben und Schicksal, erst 1988 erscheinen. Im Westen wird er bereits 1980 publiziert und in zahlreiche Sprachen übersetzt, aber niemand interessiert sich dort für den ersten Teil.

Jetzt ist dieser erste Roman, unter dem vom Autor ursprünglich vorgesehenen Titel *Stalingrad*, im Claassen Verlag auf Deutsch erschienen, übersetzt von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe und lektoriert von Ulrike Ostermeyer, die bereits die deutsche Übersetzung von Leben und Schicksal betreut hat. Damit kann Grossmans Dilogie auch auf Deutsch erstmals im Zusammenhang gelesen werden.

Angelegt ist sie als großes sowjetisches Epos über den Krieg, nach dem unverkennbaren Vorbild von Tolstois Krieg und Frieden. Anders als Tolstoi schreibt Grossman jedoch über ein Geschehen, das er selbst erlebt hat. Als Kriegsberichterstatter der Armeezeitung *Krasnaja Swesda* war er von September 1942 bis Anfang Januar 1943 im belagerten Stalingrad. Im Januar 1944 erfuhr er bei einem Besuch seiner kurz zuvor von der Roten Armee befreiten Geburtsstadt Berdytschiw, dass seine Mutter dort bereits 1941 unter deutscher Besatzung zusammen mit zehntausenden weiteren jüdischen Einwohnern ermordet worden war. Und im September 1944 gehörte er zu den ersten Journalisten, die das befreite NS-Vernichtungslager Treblinka betraten.

1949 schloss Grossman die erste Fassung des Romans *Stalingrad* ab und übergab sie der Zeitschrift *Nowy Mir*. In den drei Jahren danach erstellte er insgesamt fünf weitere Fassungen, um Einwände und Änderungswünsche der Redaktion und verschiedener sowjetischer Institutionen – vom Schriftstellerverband bis zum ZK der KPdSU – zu berücksichtigen: Beim sowjetischen *Krieg und Frieden* wollten alle ein Wörtchen mitreden, und natürlich fürchteten alle den Unmut Stalins. Die Charaktere wurden geglättet, allzu realistische Schilderungen des sowjetischen Alltags herausgenommen. 1952 erschien der Roman schließlich mit zahlreichen Eingriffen und unter dem geänderten Titel *Für die gerechte Sache* in vier Ausgaben von *Nowy Mir*.

Am 12. August desselben Jahres wurden im Gefängnis der Ljubjanka, des Moskauer KGB-Hauptquartiers, 13 jüdische Intellektuelle als Konterrevolutionäre erschossen. Sie hatten, so wie auch Grossman, dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee angehört, das während des Krieges auf Initiative der Sowjetregierung gegründet wurde, um Unterstützung aus jüdischen Kreisen zu gewinnen. Ein im Auftrag des Komitees unter Grossmans und Ilja Ehrenburgs Redaktion erstelltes Schwarzbuch, in dem die Ermordung der sowjetischen Juden während der deutschen Besetzung dokumentiert werden sollte, hatte in der Sowjetunion nicht erscheinen können: Nach dem Krieg war es nicht mehr erwünscht, den Genozid der jüdischen Bevölkerung als solchen zu thematisieren – die übergreifende Sprachregelung lautete jetzt, dass die Deutschen „friedliche Sowjetbürger“ ermordet hätten. Mit Stalins Abkehr von dem 1948 neu gegründeten Staat Israel verschärfte sich die Situation noch: Das Komitee wurde aufgelöst, viele seiner Mitglieder wurden als „wurzellose Kosmopoliten“ und Unterstützer Israels inhaftiert und schließlich exekutiert. Das Schwarzbuch diente in den Prozessen als „Beweismaterial“. Die Redakteure Ehrenburg und Grossman waren zu prominent und zu wichtig, um belangt zu werden, aber sie wussten nur zu gut, wie prekär ihre Stellung war.

Umso bedeutsamer ist es, dass Grossman das aus dem ZK lancierte Ansinnen ablehnte, einen zentralen Protagonisten, den Physiker Viktor Strum, aus dem Roman zu entfernen. Strum ist wie Grossman selbst jüdischer Herkunft und in Berdytschiw aufgewachsen. Zugleich hat er ein reales Vorbild: den ebenfalls jüdischen Physiker Lew Strum, der an der Kiewer Universität lehrte, als Grossman dort Chemie studierte, und der 1936 den stalinschen Repressionen zum Opfer fiel.

Stalins Tod am 5. März 1953 markiert nicht nur ein Ende des Massenterrors; er bedeutete auch für jüdische Akademiker und Intellektuelle in der Sowjetunion das Ende einer existenziellen Bedrohung. Die Zensur wurde gelockert; für eine 1956 erschienene Buchausgabe des Romans *Für die gerechte Sache* konnte Grossman eine Reihe von Eingriffen rückgängig machen. Auf dieser Fassung basiert auch die erste deutsche Übersetzung von Leon Nebenzahl, die 1958 unter dem Namen *Wende an der Wolga* im Ostberliner Dietz Verlag herausgebracht wurde.

Die jetzt erschienene Neuübersetzung folgt einer Fassung, die der englische Übersetzer Robert Chandler zusammen mit dem Moskauer Literaturwissenschaftler Yury Bit-Yunan erstellt hat. Beide haben in jahrelanger Arbeit verschiedene Versionen des Romans abgeglichen, vom ersten handschriftlichen Manuskript bis zu den letzten Korrekturen Grossmans für eine Neuausgabe in seinem Todesjahr 1964. Diese Textfassung enthält viele weitere Formulierungen und Passagen aus früheren Versionen, die nach Einschätzung Chandlers und Bit-Yunans gegen den Willen des Autors geändert oder gestrichen wurden. Sie ist paradoxerweise für russischsprachige Leser bisher nicht zugänglich: Die englischen Übersetzer Robert und Elizabeth Chandler haben direkt mit den verschiedenen Quellen gearbeitet. Für die deutsche Übersetzung hat Andreas Weihe die russische Fassung anhand der Angaben Robert Chandlers und der englischen Ausgabe aus diesen Quellen rekonstruiert.

In dieser Gestalt nähert sich Grossmans Roman dem an, was dem Autor vorschwebte, als er in den 1940er-Jahren daran arbeitete. Die Erzählweise ist weitgehend dem in der Sowjetunion offiziell geforderten Realismus verhaftet. Aber Grossman nimmt dieses Prinzip ernster, als es die Doktrin des Sozialistischen Realismus vorsieht. Seine Figuren verkörpern keine Prinzipien, sie sind lebendige, widersprüchliche Charaktere. Der sowjetische Sieg über NS-Deutschland verdankt sich für ihn gerade nicht übermenschlichem Heroismus: „Ist nicht genau das eine Hoffnung für das Menschengeschlecht – dass wahrhaft Großes von normalen, einfachen Menschen vollbracht wird?“

*Stalingrad* ist eine anschauliche, vielstimmige, fesselnde Darstellung der Kriegsjahre aus der Perspektive von Menschen in der Sowjetunion. Bei dem Folgeroman *Leben und Schicksal*, an dem Grossman noch zu Lebzeiten Stalins zu arbeiten beginnt und den er in der Tauwetterperiode unter Chruschtschow fertigstellt, verzichtet er radikal auf jeden Kompromiss gegenüber der Staatsmacht. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen wird nun offen als solche thematisiert. Und der Blick weitet sich auch auf die Abgründe der eigenen Gesellschaft: Figuren des Romans sind als Opfer und Täter in politische Denunziationen verstrickt, und einige Kapitel spielen in sowjetischen Straflagern und Gefängnissen.

Vor allem aber stellt *Leben und Schicksal* die Grundsatzfrage nach der Legitimität des sowjetischen Systems. Ohne den Stalinismus mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen, thematisiert das Buch die Gemeinsamkeiten zwischen beiden, und ein ganzes Kapitel befasst sich mit der Analyse des Totalitarismus. Das ist auch in der Tauwetterzeit zu viel: Als Grossman den abgeschlossenen Roman 1960 in die Redaktion der Zeitschrift *Snamja * bringt, gelangt er von dort in die Hände des KGB, der sämtliche greifbaren Manuskripte beschlagnahmt. Michail Suslow, der Sekretär des ZK der KPdSU und zweitmächtigste Mann der Sowjetunion, sagt Grossman bei einer Unterredung, dieses Buch werde frühestens in zweihundert Jahren gedruckt.

*Leben und Schicksal* ist Grossmans Mutter gewidmet, die von den Deutschen in Berdytschiw ermordet wurde. Er hatte vorher jahrelang keine Nachricht von ihr und schrieb bis an sein Lebensende Briefe an die Verstorbene. Im Roman erhält der Physiker Viktor Strum, dessen Mutter das gleiche Schicksal erleidet wie die des Autors, einen letzten Brief von ihr, den sie im Bewusstsein des nahen Endes schreibt. „Weißt Du, mein Freund“, heißt es dort, „ich habe Dich immer dazu angehalten, die Wahrheit zu sagen.“ Die über zweitausend Seiten von Grossmans Romandilogie sind nicht nur eine große historische Erzählung. Wer sie liest, erlebt auch mit, wie jemand unter schwierigsten Bedingungen erkundet, was es eigentlich heißt: die Wahrheit zu sagen.

Anselm Bühling
Bühling hat unter anderem Bücher von Masha Gessen, Omer Bartov und Joshua Yaffa übersetzt und ist Redakteur und Autor des Online-Magazins *tell* (https://tell-review.de). Für die deutsche Ausgabe des Romans *Stalingrad* hat er den Anhang übersetzt und mit Unterstützung des Übersetzerteams die Anmerkungen für deutsche Leser bearbeitet und ergänzt.