Freitag, 26. April, 2024

„Und es beginnt in meiner Hand, wie damals, aufzutauen“

Von PD

Je mehr Widerstand, desto größer die Spannung: Eine Anthologie der zeitgenössischen russischen Dichtung in deutscher Übersetzung

*Petersburger Dialog*: Tolstoi, Dostojewski, Tschechow. Vermutlich erschöpft sich mit diesen Namen die Kenntnis der russischen Literatur beim durchschnittlichen europäischen Lesepublikum. Weit weniger Menschen kennen Puschkin, geschweige denn die heutige russische Literatur, insbesondere die Poesie. Alexander Nitzberg, der bekannte und vielfach prämierte Lyrikübersetzer (unter anderem für seine Übertragung des Romans „Meister und Margarita“), wollte diese Lücke schließen. In seiner Anthologie „Revolution der Sterne“ versammelte er 30 poetische Stimmen aus Moskau und St. Petersburg – darunter Klassiker, wie Jewgenij Rejn, Oleg Tschuchonzew und Sergej Stratanowski, und Avantgardisten, wie Konstantin Kedrow, Jelena Kazjuba und Andrej Sen-Senkow. Viele werden erstmals ins Deutsche übersetzt. Die Anthologie ist zweisprachig.

Herr Nitzberg, lassen Sie mich zuerst eine provokante Frage stellen: Wer braucht schon in der modernen Welt Poesie?

Poesie war schon immer „ein Buch für alle und für keinen“. Es kommt uns nur so vor, als spielte sie früher eine größere Rolle als heute. Lediglich das Bildungssystem war anders. Die Kenntnis der Gedichte konnte etwas durchaus Oberflächliches sein, eine bloße Mode, ein Statussymbol, bar jedes tieferen Verstehens. Wahre Dichtung ist ein Monolog – das heißt: ein unerbittliches Selbstgespräch. Auf so etwas lässt sich nicht jeder ein. Doch gerade von solchen Selbstbegegnungen zehre, laut Gottfried Benn, die Menschheit. „Aber“, so fragte er, „wer begegnet sich selbst? Nur wenige und dann allein …“.

Nun gut, doch wozu braucht die deutsche Leserschaft zeitgenössische russische Dichtung? Woher stammt überhaupt die Idee zu dieser Anthologie?

Dass die russische Lyrik einiges zu bieten hat, ahnten Kenner schon lange. Aber sie sind ohne Sprachkenntnis ganz auf verschiedene Vermittler angewiesen. Und in der Regel wählen diese solche Dichter aus, die der offiziellen „westlichen Sicht“ auf Russland entsprechen. Zumindest ist dies seit dem Kalten Krieg der Fall, wenn nicht schon länger und hält im Prinzip bis heute an. Ich wollte dagegen die zeitgenössische russische Poesie jenseits eines solchen politischen Rahmens oder Deutungsmusters präsentieren und mich viel mehr auf ästhetische Parameter konzentrieren. Ein solcher Ansatz wird den Poesiefreunden viel Neues und Überraschendes bieten.

Wie haben Sie die Dichter für Ihre Anthologie ausgewählt?

Der Band versammelt 30 Namen. Die meisten sind aus Moskau und St. Petersburg. Darunter „alte Hasen“, aber auch jüngere Lyriker, traditionelle wie avantgardistische, renommierte wie auch Geheimtipps. Aber sie alle eint die Leidenschaft für Sprache und hohes Können. Natürlich sind 30 Menschen nicht in der Lage, die zeitgenössische russische Poesie in ihrer Gesamtheit zu präsentieren, aber ich denke, das ist ein Problem für jede Anthologie und jede Auswahl.

Glauben Sie, dass es überhaupt möglich ist, über zeitgenössische russische Poesie als Phänomen zu sprechen? Kann man sie etwa mit der Dichtkunst des sogenannten Silbernen Zeitalters vergleichen, also mit der Blütezeit der Poesie in Russland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert?

Von einem „Phänomen“ reden wir meistens in der Vergangenheitsform. „Von Angesicht zu Angesicht kann man das Gesicht nicht erkennen“, wie ein russischer Dichter einmal sagte. Um das Ganze zu sehen, ist Distanz erforderlich. Dichter sind nun mal Individuen, die manchmal, aber keineswegs immer, miteinander in Kontakt treten. Es ist wichtig zu verstehen, dass ihre eigentlichen Begegnungen eher auf einer anderen, geistigen Ebene stattfinden. Und dort begegnen sie nicht nur einander, sondern auch ihren Vorgängern, den Klassikern der russischen wie auch der Weltliteratur. Wie Achmatowa in ihren berühmten Zeilen sagt: „So schreibe ich auf deinen Skizzenblättern, / da mir die Bögen ausgegangen sind. / Als Flocke, ohne Vorwurf, voll Vertrauen, / scheint fremdes Wort hindurch, und es beginnt / in meiner Hand, wie damals, aufzutauen.“ Und doch bin ich überzeugt, dass einst, wenn genug Zeit verstrichen ist, viele Stimmen aus dieser Auswahl zu den Klassikern zählen werden.

Wenn es sich um Individuen handelt, lassen sie sich dennoch in Gruppen einteilen oder als Einheit wahrnehmen?

Ich glaube, dass zeitgenössische Dichter weniger in Gruppen, Schulen oder Bewegungen eingeteilt werden können. Sie unterzeichnen keine Manifeste mehr. Aber trotzdem kann man immer etwas entdecken, was sie verbindet. Lyriker, wie Sergej Gandlewski und Michail Eisenberg zum Beispiel, lieben eine gewisse emotionale Kühle und äußere Ruhe, hinter der sich jedoch ein Abgrund auftut. Bei anderen, wie bei Irina Jermakowa oder bei Inga Kusnezowa, brodelt und zischt jeder Vers, und die Bilder wechseln sich rasant ab. Manche, wie Natalia Asarowa oder Anna Solotarjowa, bevorzugen eine starre Konstruktion. Bei noch anderen, wie bei German Lukomnikow oder Boris Wantalow, verlässt die avantgardistische Geste den äußeren Rahmen von Literatur und wird Teil ihrer Biographie. Darüber hinaus ist da noch etwas, was für die gesamte russische Dichtung wesenhaft ist: Sie steht und fällt mit der Tradition.

Und die deutschsprachige?

Die moderne deutschsprachige Poesie beruht auf vollkommen anderen Prinzipien. Alle Traditionen werden für gewöhnlich von vornherein abgelehnt und zur „Konvention“, das heiß zur Schablone erklärt. Und werden sie verwendet, dann ausschließlich zu Parodiezwecken. Es gibt keine Regeln, alles ist möglich. (Die einzige Schranke bildet höchstens die Ebene der Wort- und der Themenwahl im Sinne der *political correctness*.) Ich glaube aber, dass Freiheit vor allem dort zu Tage tritt, wo es besonders scharfe Grenzen gibt. Je mehr Widerstand, desto größer die Spannung.

Wollen Sie damit sagen, es gibt in der zeitgenössischen russischen Dichtung kein Aufbegehren gegen die Tradition?

Aber selbstverständlich gibt es solch ein Aufbegehren! Doch die Rebellion gegen Traditionen setzt eben die Kenntnis dieser Traditionen voraus. Fast alle Gedichte der Anthologie bewegen sich in diesem Spannungsfeld zwischen Tradition und Avantgarde, das für die russische Lyrik seit der Moderne so prägend ist.

Wird im deutschsprachigen Raum überhaupt noch gereimte Lyrik gelesen?

Aber ja. Und dennoch versuchen oft Übersetzer der russischen Dichtung, diese mit einem schlaffen freien Vers wiederzugeben, um sie somit den vertrauten deutschen „Texten“ anzugleichen. Dieser Praxis muss ich entschieden widersprechen: Die Literatur eines anderen Landes und eines anderen Kulturkreises sollte mit all ihren Eigenarten vorgestellt werden. Darum ist es nicht verkehrt, die Welt immer wieder daran zu erinnern: Poesie kennt keine Verbote von Kunstgriffen oder Ausdrucksmitteln. Was zählt, ist einzig und allein die Frage, ob der Künstler sie beherrscht oder nicht.

Das Gespräch führte Daria Boll-Palievskaya.

Die zweisprachige Anthologie „Revolution der Sterne: Russische Dichtung der Gegenwart“, herausgegeben von Alexander Nitzberg, ist im März im Klever Verlag erschienen.

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