Freitag, 26. April, 2024

Gesucht: zukunftsweisende Konzepte für Russland und Europa

Von Fjodor Lukjanow Bild: Shutterstock

Wird er gehen? Ein Hoffnungsschimmer erhellte zu Beginn dieses Jahres im Westen die finsteren Gesichter mancher Beobachter der politischen Entwicklung in Russland. In einer Rede vor der Föderationsversammlung gab Wladimir Putin im Januar eine Reihe von Verfassungsänderungen bekannt, die sie als Beginn des Machtwechsels deuteten.

Aber er geht nicht. Er bleibt für immer. Als ihnen das klar wurde, wich die Vorfreude auf langersehnte Veränderungen dem Gefühl verzagter Hoffnungslosigkeit.

In den vergangenen Jahren der Verschlechterung der Beziehungen zu Russland sind in der westlichen Wahrnehmung zwei Dinge geschehen:

Erstens hat sich die Nennung des Landes untrennbar mit dem Namen einer Person verbunden. Ein solches Maß einer Verbindung zwischen einer Person und dem Staat hat es in Russland seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Putin und Russland sind für Außenstehende zu Synonymen geworden. Das heißt, dass ein riesiger Staat, der in seiner Geschichte immer wieder als verhängnisvoll unkontrollierbar und extrem starr galt, sich plötzlich widerspruchslos dem Machtwillen eines einzelnen unterworfen hat.

Zweitens hat Russland in den Augen westlicher Beobachter sein Recht auf Zwischentöne verloren. Es ist üblich geworden, Russland auf ein Schema zu reduzieren, ein schwarz-weißes, das kein differenziertes Verständnis zulässt. Die einfache Dichotomie „Endlich geht er – er geht niemals“ kann auch gelesen werden als: „Das russische Problem verschwindet – dieses Land wird für immer unser Problem bleiben“. Das entspricht dem Versuch, das Problem in ein verständliches System eigener Kategorien einzufügen – anstatt zu analysieren, was dort tatsächlich geschieht.

Niemand bestreitet, dass das russische Politikmodell zentralisiert und extrem personifiziert ist. Das ist auf die Verflechtung der alten historischen Tradition mit den Realitäten zur Jahrtausendwende zurückzuführen. Nach den fatalen Erschütterungen, die Putins Vorgänger trafen, war das Bedürfnis nach einem starken und effektiven Führer entstanden. Wenn aber die Gewöhnung an politische Institutionen nicht gegeben ist, verwandelt sich effektive Führung an sich in eine Institution. Diese Institution folgt dann unweigerlich nicht vorgegebenen Regeln, sondern informellen Umständen und einem aktuellen Verständnis von Zweckmäßigkeit. Für diesen Vorgang ist der gute oder ungute Wille des Regierenden gar nicht entscheidend, er folgt in erheblichem Maß einer eigenen inneren Logik. Und die Führungsfigur, um die herum diese ganze Konstruktion aufgebaut ist, kann selbst zur Geisel dieser Logik werden.

Hinzu kommt: Je komplizierter die Realität, desto einfachere Antworten sind gewünscht. Daher kommt auch das Verlangen des Westens, alles was Russland betrifft in zwei klaren Farben zu zeichnen – das Beharren auf dem Konzept der „richtigen und falschen Seite der Geschichte“, selbst wenn es sich in der Geschichte nicht wirklich bewährt hat.

Inzwischen weiß man im Westen selbst nicht mehr, wer sich auf welcher Seite befindet. Diese unangenehme Ungewissheit verschärft jedoch nur die Neigung, nicht nur einen externen Schuldigen für die eigenen Probleme zu suchen, sondern ein „abschreckendes Beispiel“, auf das man kopfschüttelnd zeigen kann. Russland kommt da gerade recht.

Die Krise in den Beziehungen zu Russland scheint unmittelbar mit der Krise in den westlichen Gesellschaften und den politischen Systemen zusammenzuhängen. Das ist keine gute Nachricht, denn es bedeutet, dass die Entwirrung der Beziehungen viel mühsamer und langwieriger sein wird, als wenn es nur um konkrete geopolitische, wirtschaftliche oder sogar ideologische Widersprüche ginge.

Russland und die Europäische Union sind, auch wenn es überraschen mag, fast gleich alt. Die Russische Föderation in ihrer modernen Gestalt ist kurz vor Beginn des Jahres 1992 in die internationale politische Arena getreten, und fast zur gleichen Zeit, Anfang 1992, wurde der Vertrag von Maastricht unterzeichnet und die EU gegründet. Natürlich entstanden beide Partner nicht aus dem Nichts, beide setzten eine lange Tradition fort, Russland die UdSSR, die EU die EG. Doch das Zusammenfallen der Ereignisse hat symbolische Bedeutung, und das Auftreten dieser beiden Subjekte kennzeichnete für Europa das Ende einer Epoche und den Beginn einer neuen.

Fast drei Jahrzehnte später traten Russland und die EU, wiederum zur gleichen Zeit, in ein neues Zeitalter ein. Und das hat nichts mit Personalien zu tun, obwohl die lange Amtszeit bestimmter Personen zwangsläufig für Nervosität sorgt, in dem Moment, in dem sie anfangen, über ihr Ausscheiden nachzudenken. (Die Fälle Putin und Merkel, bei allen Unterschieden, belegen dies.)

Aber es wäre eine unzulässige Verkürzung, alles auf persönliche Faktoren zu reduzieren. In beiden Teilen des europäischen Kontinents – in der EU und östlich davon – bedarf es offensichtlich einer jeweils neuen Agenda.

Die EU lebte 30 Jahre lang in dem (wenn auch sich abschwächenden) Gefühl, dass die Welt sich unumkehrbar zu ihren Gunsten verändert habe. Und tatsächlich schien das Modell der europäischen Integration derart erfolgreich zu sein, dass es als Vorbild für die gesamte Menschheit dienen konnte.

Aber jetzt ist von diesem Gefühl fast nichts mehr übrig. Großbritanniens Austritt ist Symbol für das Ende der Expansion und den Beginn einer Schrumpfung der Gemeinschaft. Einer Schrumpfung nicht unbedingt im buchstäblichen Sinn – in absehbarer Zukunft dürfte kaum noch jemand die Lust verspüren, die EU zu verlassen –, sondern im mentalen, das heißt im Sinne einer Konzentration auf die eigenen Probleme, auf die Suche nach einer neuen Konzeption eines einigen Europa, das den sich ändernden Zeiten angemessen ist.

Der Brexit verändert auch die innere Balance der EU. Er bedeutet nicht einfach minus ein Land, sondern eine völlig andere Konstellation der Kräfte und Interessen zwischen den führenden kontinentalen Mächten, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich.

In Russland sind diese 30 Jahre völlig anders verlaufen. Die Politik konzentrierte sich zunächst auf das Überleben als funktionsfähiger Staat, dann auf die Anerkennung seiner internationalen Rolle. Obwohl sich die Situation Mitte der 1990er-Jahre und Anfang der 2010er-Jahre extrem unterschied, sind die Ansprüche doch die gleichen geblieben: die Rückkehr zu einer bedeutenden Position in der internationalen Arena – wobei sich die Einschätzung, welche Mittel dafür einzusetzen seien, merklich verändert hat.

Über die Kosten kann man lange streiten, auch darüber, was eine „bedeutende Position“ sein soll, aber am Ende des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts wird niemand bestreiten können, dass Russland auf der internationalen Bühne wieder als ein Spieler agiert, den man weder ignorieren noch übergehen kann. Etwas vereinfacht gesagt: Die Revanche für den Absturz vor 30 Jahren ist gelungen.

Die nächste Frage ist, wie man die wiederhergestellten Optionen nutzen kann – und zwar weniger zur Erweiterung der äußeren Sphäre, außenpolitisch, als vielmehr zur Gewährleistung der Entwicklung der inneren.

In diesem Jahr enthielt die Rede des russischen Präsidenten an die Föderationsversammlung nicht nur die Vorschläge über Änderungen der Verfassung, sondern weitere interessante Dinge. Vor allem wurde der Außen- und Sicherheitspolitik, traditionell zentrale Teile in solchen Ansprachen, ungewohnt wenig Aufmerksamkeit gewidmet, und der Gedanke im Abschnitt Internationales war einfach und eingängig: Dank der Bemühungen der vergangenen Jahre sei die Sicherheit gewährleistet, Kriege seien nicht zu befürchten. Die Russen könnten sich um andere Dinge kümmern – um die Entwicklung des Lands und die Steigerung der Lebensqualität. Den Themen Demographie und Familienwohl war etwa die Hälfte der gesamten Rede gewidmet.

Um ein populäres Motto zu bemühen, mit dem Donald Trump durch sein politisches Leben marschiert, könnte man den Sinn der Botschaft Putins etwa so wiedergeben: Russland first. Nicht im Sinne internationaler Dominanz, sondern im Gegenteil, im Sinne einer wesentlich besonneneren Konzentration auf die Lösung innerer Aufgaben.

Das ist die neue Agenda, die internationalen Tendenzen Rechnung trägt: Immer mehr Staaten beschäftigen sich vornehmlich mit ihren inneren Angelegenheiten. Das bedeutet natürlich nicht Isolation oder Autarkie – in einer Welt, die trotz allem aufs Engste verflochten ist, wäre das schlicht unmöglich. Aber externes Handeln muss sich in größerem Maß als bisher nach den inneren Bedürfnissen und Erwartungen richten.

In Russland und in der EU beginnt eine neue Epoche – gleichzeitig, aber mit unterschiedlichen Inhalten. Die EU braucht andere Grundlagen für ihre Konsolidierung, und sie ist unsicher, wo sie zu suchen sind. Einerseits ist eine Reorganisation im Inneren erforderlich, die aber von der Außenpolitik ablenkt. Auf der anderen Seite erfordert die sich radikal verändernde internationale Sphäre Reaktionen, Antworten auf die Einflüsse von außen. Die gewohnten Rezepte haben ihren Sinn verloren.

In Russland verschieben sich die Prioritäten auf innere Themen, und das Personal der neuen Regierung trägt dem Rechnung. Der Erhalt des internationalen Status verschwindet deswegen nicht von der Agenda. Zumal das in Umfragen festgestellte Nachlassen des Interesses der russischen Bürger an internationalen Themen sehr gut bedeuten kann, dass sie mit dem aktuellen Zustand zufrieden sind. Wenn sich jedoch die Lage in diesem Bereich verschlechtert, wird die Sorge der Bürger um den Status ihres Landes in der Welt schnell wieder wachsen.

In einer idealen Welt ergänzen Russland und die EU einander wunderbar. Die EU ist ein optimaler Partner für die Umgestaltung Russlands in ein moderneres und wohlgeordnetes Land. Russland wiederum ist in der Lage, einem einigen Europa eine strategische Dimension hinzuzufügen und es dabei zu unterstützen, eine neue Position auf internationaler Ebene zu formulieren.

Darüber wird seit Mitte der 1990er-Jahre gesprochen. Praktische Schritte wurden nicht unternommen, weil keine Seite, vor allem nicht die EU, bereit war, auf ihre Vorstellungen von Zusammenarbeit zu verzichten und reale Kompromisse nach dem Modell der Gegenseitigkeit einzugehen. Grob skizziert, hielten beide Seiten einen realen Durchbruch in den gegenseitigen Beziehungen nicht für wichtig genug, dass sie sich ernsthaft darum bemüht hätten.

Jetzt ist die Situation erheblich komplizierter. Bis jede der beiden Seiten sich über ihre inneren Einstellungen und Prinzipien klar geworden ist – die sich zwangsläufig werden ändern müssen –, bleibt die Arbeit mit den äußeren Partnern zweitrangig, genauer gesagt, rein instrumentell. Bis auf weiteres.

Also geht Putin nun, oder geht er nicht? Wann? Wohin? Wie? Diese Frage wird die Kommentatoren weiterhin beschäftigen und diverse Spekulationen auslösen, weil der russische Präsident ein Meister des indirekten Denkens über Bande ist. Aber das Schicksal einzelner Politiker ist nur ein Begleitumstand vor dem Hintergrund der objektiven Veränderungen, die gerade vor unseren Augen stattfinden.

 

Fjodor Lukjanow
ist Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Chefredakteur des Fachmagazins Russia in Global Affairs.

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