Freitag, 29. März, 2024

Enttäuschend: Werner Herzogs Film „Gorbatschow – Eine Begegnung“

Von Michail Trofimenkow Gorbatschow – eine Begegnung: Regisseur Werner Herzog (links) und sein Protagonist
Bild: pa/obs MDR Mitteldeutscher Rundfunk

Von Werner Herzog, dem Rhapsoden der Abenteurer und Tyrannen, erwartet man einen so braven Film zuletzt. „Gorbatschow – Eine Begegnung“, so der Titel, wirkt wie ein Kapitel aus einem Geschichtslehrbuch. Vielleicht zum ersten Mal spielte Herzog, der sein Leben lang gegen alle nur möglichen Regeln aller künstlerischen und politischen Spiele verstoßen hat, nach Regeln, noch dazu nach den Regeln des Fernsehjournalismus.

Auch die russischen Zuschauer müssen enttäuscht sein, schließlich haben sie sich in den vergangenen Jahrzehnten daran gewöhnt, dass die Geschichte kein objektiver Prozess ist, sondern ein billiger Krimi, komponiert aus Geheimnissen, Rätseln und Skandalen. Ganz zu schweigen davon, dass Gorbatschow wahrscheinlich für die Mehrheit dieser Zuschauer eine negative Figur ist, weil er die Sowjetunion zerstört hat, die aus gehörigem zeitlichem Abstand betrachtet immer mehr zum hellen „Land der Kindheit“ zu werden scheint.

Das Paradox besteht darin, dass gerade die kurze Regierungszeit Gorbatschows (1985-1991) die beste Grundlage für Verschwörungstheorien liefert. Zu stürmisch war der Übergang von der vielversprechenden „Perestroika“ der Sowjetunion zu ihrem katastrophalen Zusammenbruch. Zu viele Unklarheiten hat die Geschichte des Putschversuchs im August 1991 hinterlassen. Zu viele Details von Gorbatschows Kampf – zuerst mit den „Konservativen“ in der sowjetischen Regierung, dann mit Boris Jelzin, dem radikalen Zerstörer der UdSSR – wurden nicht aufgedeckt und werden kaum jemals aufgedeckt werden.

Es wäre naiv, von Gorbatschow Offenbarungen und Enthüllungen zu erwarten. Dazu beherrscht er die Kunst der politischen Intrige zu gut, ohne die er nicht an die Spitze eines so großen Lands gekommen wäre; zu gut beherrscht er auch die Parteirhetorik, die Kunst, viele Worte zu machen ohne etwas Wesentliches zu sagen. Und dem steht auch die Figur Gorbatschow selbst entgegen, wie sie sich in den Augen der Öffentlichkeit gebildet hat und der er verpflichtet ist wie jeder Weltstar. Nicht zuletzt ist er dafür schlicht zu alt: Mit 90 Jahren müssen alle Triumphe und Niederlagen der Vergangenheit wie eitles Geplänkel erscheinen.

Gleichwohl hatten die Gespräche mit Gorbatschow für Herzog zweifellos einen gewissen höheren Sinn, und worin dieser Sinn besteht, das versteht man nur, wenn man die Perspektive Herzogs einnimmt. Er trat im gegebenen Fall in zweifacher Gestalt auf: Gorbatschow interessiert ihn als Regisseur und als Deutscher.

Es ist nicht weiter erstaunlich, dass der Gorbatschow, den wir in diesem Film sehen – ein edelmütiger, durch und durch bürgerlicher Patriarch, der die Tränen nicht zurückhalten kann, wenn er sich an seine verstorbene Frau Raissa erinnert –, perfekt in die Galerie der außergewöhnlichen Figuren passt, die Herzog seit nunmehr einem halben Jahrhundert auf der Leinwand erschaffen hat. Die Helden seiner Spielfilme, sei es der Konquistador Aguirre oder der Cobra Verde genannte Vizekönig eines westafrikanischen Eingeborenenstamms, waren vor allem Idealisten, besessen von einem selbstmörderischen Traum.

Gorbatschow ist für Herzog genau solch ein Idealist, der sein politisches Schicksal seinem Traum opferte, und das trotz all der Jahrzehnte im Umfeld der Nomenklatur, die jedem Hauch von Idealismus ontologisch feindlich gegenübersteht. Aguirre träumte vom „goldenen Land“ Eldorado, Fitzcarraldo von einem Opernhaus im Dschungel des Amazonas, Gorbatschow von Frieden auf der ganzen Welt, von der Freundschaft zwischen den geopolitischen Gegnern und davon, dass es in der UdSSR  „mehr, mehr, mehr Sozialismus“ gäbe.

Der Unterschied zwischen Aguirre und Gorbatschow besteht lediglich darin, dass Aguirre ein bewaffneter Träumer war, der der Welt nicht den Frieden brachte, sondern das Schwert. Gorbatschow hingegen, der über beinahe unbegrenzte Möglichkeiten verfügte, sowohl für eine weltweite militärische Konfrontation als auch für die gewaltsame Unterdrückung der internen Opposition, legte freiwillig die Waffen nieder.

Dabei tat er das zweifach. Zuerst initiierte er das Ende des Kalten Kriegs faktisch zu den Bedingungen des Westens. Dann gab er dem – objektiv rebellischen – Beschluss der Präsidenten von vier Sowjetrepubliken über die Auflösung der UdSSR nach und trat als Präsident zurück. Für jeden, der nicht den geringsten Teil von Gorbatschows Macht besitzt, ist es unvorstellbar, was ihn dieser freiwillige Rücktritt kostete.

Gorbatschow selbst zweifelt dem Film nach bis heute daran, ob es richtig war, die Sowjetunion nicht zu erhalten. Anders lässt sich sein Wutausbruch – vielleicht der erste nach seinem Rücktritt – über Jelzin nicht erklären, den Mann, der ihn von der Macht verdrängt hat: „Man hätte anders mit ihm verfahren müssen. Man hätte ihn woanders hinschicken sollen. Es schmerzt mich für mein Volk.“

Die Protagonisten aus Herzogs Filmen zieht es im Namen des Wohls der Menschheit in den Dschungel und in die Krater der Vulkane, auf unzugängliche Berge und ins arktische Eis. In ganz ähnlicher Weise führte auch Gorbatschow sein Land in unbekannte und gefährliche Fernen. Der Untergang der UdSSR bestätigt nur die Idee des Filmemachers Herzog vom Verhängnis des Traums für den Träumer selbst, zugleich aber seine Notwendigkeit für die Menschheit –und vor allem für Deutschland.

In seinen früheren Filmen trat Herzog, gelinde gesagt, in der Rolle des „metaphysischen Deutschen“ auf, des Interpreten der nationalen philosophischen Tradition, des Romantikers, der das Philistertum bekämpft und an die Welt als „Wille und Vorstellung“ glaubt. In „Gorbatschow – Eine Begegnung“ meldet er sich zum ersten Mal als „physischer“, genauer gesagt als „politischer“ Deutscher. Und in dieser seiner Eigenschaft kann er nicht anders, als unverfälschte Ehrfurcht vor Gorbatschow zu empfinden.

Es wäre ein banaler journalistischer Kniff, für diesen Zweck das russische Sprichwort „Was des Russen Brot, ist des Deutschen Tod“ umzumodeln, indem man einen typisierten Russen mit einem hypothetischen Deutschen vertauscht. Was jedoch die historische Rolle Gorbatschows betrifft, so würde das umgemodelte Sprichwort perfekt, wenn nicht seine reale historische Rolle, so doch die Wahrnehmung dieser Rolle im Bewusstsein der russischen Massen widerspiegeln. Für dieses Bewusstsein ist Gorbatschow – nicht im besten Wortsinn – der „gute Deutsche“. Das heißt, ein Politiker, der tatsächlich die sowjetischen Soldaten übereilt und ohne die erforderliche Vorbereitung aus Deutschland abgezogen und viel zu schnell der Wiedervereinigung zugestimmt hat, die in Russland als Vereinnahmung des deutschen Ostens durch den deutschen Westen empfunden wird.

Herzog gereicht es zur Ehre, dass er die ganze historische Tragik der Beziehung zwischen Russland und Deutschland im Blick, dass er sich der historischen Tragik der deutsch-russischen Beziehungen bewusst ist und den Film mit der Bitte um Vergebung für die Verbrechen der Nazis einsetzen lässt, die er Gorbatschow gegenüber stellvertretend an das sowjetische Volk ausspricht.

In dem Gespräch mit Gorbatschow ist das keine bloße Formalität, ist doch der letzte Präsident der UdSSR auch einer der letzten Menschen, die sich noch an das Elend des Kriegs erinnern. Und Gorbatschow reagiert auf die Buße Herzogs intuitiv und perfekt, aus der Position der Ewigkeit heraus, die unbedeutende Erinnerung über globale Tragödien erhebt. Er fühlt, dass es plump und unangebracht wäre, vergangene Sünden eines ganzen Lands zu verzeihen oder nicht zu verzeihen. Stattdessen löst er die unvermeidliche Spannung, indem er Anekdoten aus seiner Kindheit erzählt.

Zum Beispiel, dass er einmal als kleiner Junge, noch vor dem Krieg, in einer von Sowjetdeutschen gegründeten Kolchose die leckersten Lebkuchen bekommen habe. Ein paar Worte, und das Problem ist beseitigt. Und schon kann er sich an die Angespanntheit während der Gespräche mit Ronald Reagan in Reykjavik erinnern, an die Unterstützung, die er als junger Generalsekretär durch Margaret Thatcher erfuhr, und den Dank Herzogs für die Demontage der Berliner Mauer, für den Abzug der Soldaten und die Duldung der Wiedervereinigung entgegen nehmen.

Ich bin nicht sicher, ob alle Deutschen die gleiche Dankbarkeit Gorbatschow gegenüber empfinden wie Herzog. Vielleicht ist Gorbatschow für sie ein Politiker einer lang vergangenen Epoche, beinahe ein Zeitgenosse von Winston Churchill und Harry Truman. Herzog ist das wohl bewusst, nicht umsonst hält er es für erforderlich, seine Zuschauer an die Rolle Gorbatschows zu erinnern, und dabei diskret, aber real eine Brücke zu schlagen zwischen der vergangenen und der aktuellen Politik, zwischen der UdSSR und dem modernen Russland, und auch ein wenig die europäische Gekränktheit gegenüber der USA anzustacheln.

Herzog tut dies nicht in der Ich-Form. Er verfährt erheblich raffinierter, indem er seine Gedanken dem ihm sicherlich nicht sympathischsten Politiker in den Mund legt. Und der ehemalige amerikanische Außenminister James Baker selbst gesteht auf der Leinwand ja selbst zähneknirschend ein, man solle die Ansprüche Russlands an den Westen nicht auf die leichte Schulter nehmen, Russland habe allen Grund, an seiner Sicht auf den Zustand der Weltpolitik festzuhalten – im Klima eines neuen Kalten Kriegs eine riskante Bemerkung.

 

Die Tatsache, dass Gorbatschow für die Zuschauer, und wahrscheinlich für Herzog selbst auch, ein „Ding an sich“ bleibt, ist eine Stärke, nicht ein Mangel des Films.

Michail Trofimenkow
ist Filmkritiker der Zeitung Kommersant.