Freitag, 19. April, 2024

‚Wir brauchen eine neue Ostpolitik‘

Von Matthias Platzeck

Russland ist wieder zum Feindbild geworden, schreibt Matthias Platzeck mit Bedauern in seinem Mitte März erscheinenden Buch. Er sieht „Russland als Partner“ und weist Wege aus der Perspektivlosigkeit. Ein Vorabdruck

 

Es ist an der Zeit, sich in Europa und besonders in Deutschland von Neuem darauf zu besinnen, dass man mit Russland reden muss – und zwar ernst gemeint, nicht nur um „im Gespräch zu bleiben“. Den ungeliebten Herrn im Kreml mit Schweigen zu übergehen, weil er anders denkt und anders handelt, als wir es uns wünschen, heißt, der Politik als der „Kunst des Möglichen“ zu entsagen. Mit großen Worten, moralischer Empörung und rhetorischer Maßregelung gewinnt man keine Gestaltungsmacht.

Die „Verbalisten“ haben einem auch heute nichts zu bieten. Ihre „Trümpfe“ sind auch heute noch keine. Die wegen der Inbesitznahme der Krim gegen Russland verhängten Finanz- und Wirtschaftssanktionen werden weithin weniger als ein Instrument der Politik denn als pädagogische Strafmaßnahme angesehen. Auch ich frage mich, ob wir im Ernst glauben, dass Sanktionen des Westens die nukleare Großmacht des Ostens zum Einlenken, geschweige denn zur Umkehr bewegen.

Und natürlich geht es auch für Russland, wie stets bei den Großen und Mächtigen, um Gesichtswahrung. Wir vertiefen den Konflikt, statt ihn einzudämmen – mit Rüffel und Rüge führen wir Ost und West nicht aus der Krise heraus. Aber nur darum kann es angesichts der sich gefährlich zuspitzenden Konfrontation gehen.

Nun gilt es, vom Siegerpodest des Kalten Krieges herabzusteigen und die Realitäten von heute, so wenig sie uns gefallen und so unrecht sie sein mögen, zu nehmen, wie sie nun einmal sind, und mit ihnen Politik zu machen – den Status quo anzuerkennen, um ihn zu überwinden. Besser heute als morgen sollten wir damit beginnen, das diplomatische Vakuum der letzten Jahre wieder mit Leben zu füllen, auf Russland zuzugehen und den Konflikt „illusionslos“ zu entspannen.

Russland muss nicht auf die Knie gezwungen werden, muss nicht Besserung geloben, bevor man zu reden beginnt. Russland muss nicht erst eine lupenreine Demokratie zustande bringen und die westlichen Werte in seiner Gesellschaft unwiderruflich etablieren, um für den Westen „gesprächswürdig“ zu sein. Worauf also warten und schlafwandeln, bis das Kind endgültig in den Brunnen gefallen ist?

Wir kommen in Europa nicht umhin, im Verhältnis zu Russland noch einmal alles auf Anfang zu stellen. Mit einer Stunde null für die deutsch-russischen Beziehungen können wir beginnen. Ein Neustart setzt voraus, dass wir unseren Umgang mit Russland revidieren. Wir müssen Russland als gleichberechtigten Partner behandeln und Augenhöhe herstellen – in der Begegnung und in Verhandlungen. Ein Neustart beinhaltet auch, dass wir uns von manchen idealpolitischen Illusionen lösen und einigen realpolitischen Wahrheiten ins Gesicht sehen: Das Wünschenswerte ist nicht immer auch das politisch Machbare.

Wertegeleitete Außenpolitik hat die Ansätze, die in Zeiten der Systemkonfrontation für die Kommunikation mit anderen Ordnungen gefunden wurden, in Vergessenheit geraten lassen. Es lohnt, sich einige Leitsätze der Ostpolitik wieder in Erinnerung zu rufen, einige Einsichten neu aufzuarbeiten.

Das Wichtigste zuerst: Die Triebfedern aller Außenpolitik sind Interessen. Egon Bahr hat es 2013 vor Schülern in Heidelberg einmal sehr pointiert ausgedrückt: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Wir sollten anerkennen, dass auch Russland Interessen hat und dass auch Russlands Interessen legitime Interessen sind. Das gilt auch geopolitisch. Und es gilt auch für Russlands Sicherheitsbedürfnis, über das wir trotz der Geschichte des 20. Jahrhunderts allzu einfach hinweggehen. Wir werden nicht zu einer Verständigung und zu einem Ausgleich kommen, wenn wir die Interessen Russlands als unberechtigt zurückweisen oder schlicht ignorieren.

Des Weiteren muss, wer ernsthaft Wege zueinander finden will, bereit sein, die Perspektive zu wechseln. Gemeinsame Lösungen können wir nur erreichen, wenn wir die Beweggründe der russischen Außenpolitik nachvollziehen. Wer konstruktive Gespräche will, muss gedanklich immer auch auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen. Egon Bahr hat das geradezu gepredigt. Als Schlichter in mehreren Tarifkonflikten habe ich mich davon überzeugen können, wie ergiebig der Perspektivwechsel für Verhandlungen ist. Wenn die Fronten aussichtlos verhärtet scheinen, kann er helfen, zu einem für beide Seiten akzeptablen Ergebnis zu kommen.

Darüber hinaus muss anerkannt werden, dass auch andere Sichtweisen ihre Berechtigung haben. Wir haben uns – wohl oder übel – mit dem Gedanken anzufreunden, auch von unseren Vorstellungen abweichende politische und gesellschaftliche Konzepte, die auf anderen Traditionen und Denkweisen beruhen, zuzulassen und zu respektieren. Nur aus einer offenen und toleranten Haltung heraus kann sich ein Dialog auf Augenhöhe entwickeln. Die selbstgerecht-moralische Attitüde gegenüber Russland steht uns Deutschen nicht gut zu Gesicht. Wir sollten auf Schulmeisterei verzichten und uns nicht über Russland erheben.

Es ist nicht richtig, Ansichten Moskaus pauschal zu missbilligen – Vorschläge in Bausch und Bogen abzulehnen und Wortmeldungen von vornherein zurückzuweisen, als ob man, wie Brandt schon in Tutzing monierte, „einen Wettlauf zu gewinnen hätte, immer am schnellsten und am entschiedensten Nein zu sagen zu jedem Hinweis, der aus dem Osten kommt, weil er aus dem Osten kommt“.

Respekt vor anderen Ansichten bedeutet auch, dass wir Russland zugestehen müssen, seinen eigenen Weg zu gehen. Russland allein bestimmt, welche Schritte es zur Demokratie geht und wie diese Demokratie in näherer oder fernerer Zukunft gestaltet sein wird.

Wir müssen wieder, wie in der ostpolitischen Konzeption der Sechziger- und Siebzigerjahre, in längeren Linien denken und uns auf längere Wege einstellen. Nur so können wir eine Entwicklung induzieren, die uns aus guten Gründen als die bessere erscheint, weil sie unseren Werten näher ist. Zu erzwingen ist die Wandlung zu einer liberalen, pluralistischen Demokratie nicht.

Eher ist das Gegenteil der Fall: Unter dem Druck des Westens wird das autoritäre Russland noch stärker, werden sich die russischen Bürgerinnen und Bürger vielleicht noch bereitwilliger hinter ihrem Präsidenten versammeln. Aber natürlich gehört zur Wahrheit auch, dass Wladimir Putin die autokratischen Führungsstrukturen, die sich in den Wirren der Jelzin-Jahre auszuprägen begannen, konsolidierte. Das aber verbietet uns nicht, mit Russland zu reden, wenn wir es ernst damit meinen und etwas zum Besseren verändern wollen.

Respekt bedeutet nicht Naivität: Die Kritik an vielen Entwicklungen in der russischen Gesellschaft, die heute in Deutschland geübt wird, ist absolut berechtigt, und Beispiele für den Autoritarismus des russischen Machtapparats gibt es leider zur Genüge. Auch ich hadere mit den restriktiven Regelungen zu den vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen, die als sogenannte ausländische Agenten besonders strenge Auflagen zu erfüllen haben und immer wieder drangsaliert werden. Auch mir fehlt jedes Verständnis für die russische Gesetzgebung zu den sogenannten nichttraditionellen Beziehungen, die Homosexuelle diskriminieren. Wir beanstanden diese Weltsicht zu Recht.

Das alles sind Rückschritte – Russland war schon einmal weiter. Ich wünschte mir mehr Verständnis der russischen Führung für die Zivilgesellschaft im eigenen Land und mehr Mut, dieser ihre Freiräume zu lassen oder wieder zuzugestehen, damit sie sich in ihrer ganzen Diversität entwickeln kann.

An den Wertegrundlagen unserer Demokratie, die auch die deutsche Außenpolitik prägen, kann es keinen Zweifel geben. Nur diskreditiert sich irgendwann eine Politik, die im internationalen Kontext Werte proklamiert und hochmoralisch argumentiert. Die Außenpolitik der Bundesregierung ist an ein solches Ende gekommen.

Zum einen aufgrund der doppelten Standards, mit denen sie misst, wenn sie ihre viel beschworenen Werte in der Welt einfordert – oder eben nicht. Mit Saudi-Arabien oder China spricht Deutschland anders als mit Russland. Halten wir unseren Freunden in den Arabischen Emiraten, mit denen wir eng zusammenarbeiten, ihren Umgang mit Homosexuellen vor? Stellen wir unsere enge Kooperation mit dem chinesischen Regime wegen der Internierungslager für die Uiguren, einer der größten Menschenrechtsverletzungen unserer Zeit, infrage? Zum anderen durch die uneingestandene Priorität der Interessen vor den Werten. Der ehemalige Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider, warnte vor einer doppelzüngigen deutschen Außenpolitik: „Wer den Eindruck vermittelt, Werte zwar zu propagieren, sie aber bei Bedarf gegen ‚wichtigere‘ Interessen zurückzustellen, schadet eben diesen Werten – und der eigenen Glaubwürdigkeit – mehr, als er nutzt.“ Letztlich – siehe Saudi-Arabien und China – werden eben doch die Werte hintangestellt, wenn es um die harten materiellen Interessen geht.

In der deutschen Außenpolitik aber ist in den vergangenen Jahren von Interessen zumeist geschwiegen worden, umso mehr aber war die Rede von Werten. Natürlich war das nicht ganz ehrlich. Mittlerweile wird immerhin offen eingestanden, dass Deutschland als globale Handelsnation seine ureigenen strategischen Interessen rund um den Erdball hat. Dass dies im Kontext einer Debatte über ein stärkeres militärisches – nicht etwa diplomatisches – Engagement unseres Landes in der Welt geschieht, ist zu bedauern.

Mit einer Politik des alles oder nichts löst man keine Krisen. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts dürfen Lösungswille und außenpolitische Fantasie eingefordert werden. Zwischen Öl-ins-Feuer-Gießen und Hände-in-den-Schoß-Legen muss ein Weg in der Mitte gesucht werden, der zueinander führt. Wieder gebietet die Vernunft, die politischen Möglichkeiten neu zu vermessen – ganz pragmatisch. Auch die kleinen Schritte und Fortschritte sind der Mühe wert.

Saumseligkeit dürfen wir uns nicht leisten. Die gebetsmühlenhaft vorgetragene Zusicherung, „den Gesprächsfaden mit Russland nicht abreißen zu lassen“ – das reicht nicht einmal für ganz kleine Schrittchen. Wenn wir etwas in Bewegung bringen wollen, müssen wir ernsthaft das Gespräch mit Russland aufnehmen – auf Augenhöhe. Das ist realpolitische Räson – und es macht mir Mut, dass dies auch der Wunsch einer Mehrheit von Bürgern und Bürgerinnen in Deutschland und Russland an die Politik in ihren Ländern ist.

Matthias Platzeck
war von 2002 bis 2013 Ministerpräsident Brandenburgs für die SPD. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums.

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