Samstag, 20. April, 2024

Vierundzwanzig Jahre später besucht Alexandra Rojkov ihr Asylbewerberheim von einst

Von Alexandra Rojkov

Das Gelände war so schäbig, dass wir erschraken, als wir es sahen. Ein spitzer Metallzaun, dahinter flache Gebäude, mehr grau als weiß. Im Innenhof stapelte sich Müll, dunkelhäutige Männer stritten in einer Sprache, die wir nicht kannten. Einige der Männer kamen näher und sahen uns an. Sie waren Flüchtlinge. Genau wie wir.

Der Plattenbau hinter dem Zaun war unser erstes Zuhause in Deutschland. Eine eingezäunte Baracke auf freiem Feld, Hunderte Meter von jedem Wohnhaus entfernt. 300 Schutzsuchende aus 15 Ländern lebten damals auf dem Gelände. Darunter wir: meine Mutter, mein Vater, mein Zwillingsbruder und ich. Ich war vier Jahre alt.

Deutschland hatte Anfang der Neunzigerjahre zugesagt, ein Kontingent russischer Juden aufzunehmen, um sie vor der Diskriminierung in der Sowjetunion zu schützen. Im Frühjahr 1992 reisten wir nach Deutschland, mit einem Visum und dem Versprechen auf humanitären Schutz. Unser Wohnheim lag in Baden-Württemberg, am Rande von Ludwigsburg, einer Kleinstadt mit drei Barockschlössern und einer Arbeitslosigkeit unter Bundesdurchschnitt. Wir, die jüdischen Kontingentflüchtlinge, nannten unser Wohnheim nur »das Lager«.

Mehr als ein Jahr lang lebten wir dort. Dann fanden wir eine Wohnung und zogen aus. Wir lernten die Sprache, meine Eltern fanden Arbeit. Mein Bruder und ich wechselten aufs Gymnasium, später an die Universität. Er studiert heute Informatik, ich bin Journalistin geworden. Wer uns auf der Straße trifft, könnte nicht erraten, dass wir Flüchtlinge waren. Wir sind so deutsch geworden, dass ich es selbst lange Zeit vergessen hatte. Bis zum vergangenen Herbst.

Seit Jahren sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Sie ziehen von Syrien in den Libanon in die Türkei, von Nigeria nach Libyen nach Italien. Die meisten Deutschen wissen das. Doch 2015 spürten sie es zum ersten Mal. Allein im September vergangenen Jahres erreichten 135 000 Flüchtlinge Bayern – mehr als im gesamten Jahr zuvor.

Zu dieser Zeit wohnte ich in einer Berliner Altbauwohnung und verfolgte die Nachrichten. Ich sah, wie München die Flüchtlinge mit Applaus empfing: Deutschland schien hilfsbereit und hoffnungsvoll. Doch je mehr Flüchtlinge ankamen, desto leiser wurden die Willkommensgrüße. Selbst meine Freunde, tolerante, weltoffene Menschen, bekamen Angst. »Diese Menschen sind ganz anders als wir«, sagte einer. »Werden wir sie jemals integrieren können? Schaffen wir das?«

Ich dachte an meinen Bruder, der gerade seine Master-Arbeit beginnen will. An meinen Vater, der heute nach schwäbischer Tradition für sein Leben gern Spätzle schabt. An mich, die beruflich auf Deutsch schreibt. Unsere Integration ist gelungen – doch ich wusste nicht, wie es dazu gekommen war.

In jenen Tagen erinnerte ich mich an unsere Zeit im Asylbewerberheim. Fast alle Migranten, die in der Bundesrepublik um Asyl ersuchen, leben zunächst in einem solchen Haus. Das war 1992 so, und so ist es noch heute. Die Wohnheime sind Transitstationen. Sie sind der letzte Ort, an dem man noch ganz Sudanese sein darf oder Iraker, Russe oder Kosovare. Ist der Asylantrag bewilligt, kann man ausziehen. Man betritt seine Unterkunft als Flüchtling – und verlässt sie als Quereinsteiger in die deutsche Gesellschaft. Im Fernsehen sah ich Bilder des überfüllten Lageso in Berlin und fragte mich: Was wurde aus den Menschen, die damals mit uns im Asylbewerberheim lebten? Was kann man aus ihrer – und meiner – Geschichte lernen? Ich wollte einige von ihnen treffen, um zu verstehen, wann Integration glückt. Und wann sie scheitert.

***

Lena Gorelik, 35 Jahre, Schriftstellerin.

»Ich war elf Jahre alt, als wir in das Wohnheim zogen. Ich erinnere mich gut an die Streitereien, daran, dass ich häufig aufgewacht bin, weil die Polizei nachts kam. Einer der russischen Bewohner hatte eine Pistole, damit hat er mal herumgeschossen. Ich glaube, er ist verrückt geworden in dem Heim.

Meine Familie kam aus Russland, wir waren auch Kontingentflüchtlinge. Ich bin gleich eingeschult worden, obwohl ich kein Deutsch konnte. Eigentlich sollte ich in eine Förderklasse kommen, die extra für Flüchtlingskinder eingerichtet wurde. Aber meine Mutter bestand darauf, dass ich mit den deutschen Kindern lerne. Im Nachhinein betrachtet, hat mich diese Entscheidung gerettet. Ich war gezwungen, Deutsch zu sprechen, und kam gar nicht erst auf dieses Abstellgleis, auf dem viele Flüchtlingskinder landen.

Meine Eltern waren beide Ingenieure, aber ihre Abschlüsse wurden nicht anerkannt. Heute haben sie vor allem jüdisch-russische Freunde. Viele Deutsche würden sagen, meine Eltern sind nicht genug integriert, weil ihr Deutsch zum Beispiel nicht perfekt ist. Es genügt ja, wenn mein Vater im Restaurant mal »dunkle Bier« bestellt  statt »dunkles Bier« – und der Kellner behandelt ihn wie einen Idioten.

Natürlich kann Deutschland es schaffen, die Flüchtlinge zu integrieren. Stell dir vor, ich richte ein Essen für achtzig Leute aus, und einer der Gäste bringt seinen Bruder mit. Selbstverständlich würde das Essen trotzdem reichen.

Jeder muss helfen, die Flüchtlinge ins deutsche Leben, in die Gesellschaft zu holen. Da machen kleine Schritte viel aus. Während meiner Zeit im Wohnheim hat eine deutsche Frau uns Flüchtlingskinder auf ihren Bauernhof eingeladen. Das waren die tollsten Wochenenden meines Lebens. Egal was danach kommt, wie fremd ›die Deutschen‹ dir vielleicht für immer scheinen – solche Erlebnisse vergisst du nicht.«

***

Lena ist die erste Bewohnerin des Lagers, die ich wiederfinde. Sie lebt heute in München und schreibt Romane, vor einigen Jahren war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für mich ist Lena vor allem eines: meine ehemalige Babysitterin. Wenn meine Eltern zum Deutschkurs mussten oder aufs Amt, ließen sie mich und meinen Bruder manchmal bei Lena. Viele Jahre habe ich sie aus der Ferne bewundert. Als ich Lena nun wiedertreffe, wird mir klar, dass sie ihren Erfolg zwei Dingen verdankt: Ehrgeiz und Gleichstellung. Dass sie heute Bücher verfasst, wurde nur möglich, weil man sie als Kind nicht ausschloss. Damals war das eine Seltenheit.

Als wir 1992 nach Deutschland kamen, wollte uns zunächst kein Kindergarten aufnehmen. Also saßen mein Bruder und ich zu Hause und beobachteten die anderen Bewohner. Besonders gut erinnere ich mich an die Schwarzafrikaner. Jeden Tag hockten sie im Kreis auf dem Boden der Gemeinschaftsküche und reichten einen Topf umher. Sie aßen mit der Hand und brüllten einander an. Wir fürchteten uns vor ihnen.

Eigentlich fürchteten wir uns vor allen Bewohnern. Vor den Albanern, weil sie so laut lachten, vor den Rumänen, weil sie sich nachts im Hof mit Eisenstöcken prügelten. Es gab noch Kongolesen und Syrer, Tamilen und Libanesen. Es gab Kroaten und Kurden, Bosnier und Ukrainer. Wir hatten nichts gemeinsam, außer der Adresse, die uns fremde Sachbearbeiter zugewiesen hatten. Und einer diffusen Hoffnung auf Frieden und Wohlstand, auf Sicherheit und Glück. Genau wie die Flüchtlinge heute.

Es gibt noch mehr Parallelen. In den Neunzigern tobte der Balkankrieg: Hunderttausende Menschen flohen aus dem vormaligen Jugoslawien. Dazu kamen politisch Verfolgte, Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge. Insgesamt erreichten im Hochjahr weniger Menschen Deutschland als im vergangenen Jahr, doch die Differenz ist wohl nicht enorm. Genau lässt sich das nicht sagen, denn die aktuellen Statistiken schwanken stark.

Fakt ist, dass damals eine regelrechte Hysterie ausbrach. Der Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom »Staatsnotstand«:  Städte und Gemeinden hätten angesichts der vielen Flüchtlinge »die Grenze der Belastbarkeit überschritten«. Der Spiegel schrieb vom »Ansturm der Armen« und meinte damit auch meine Familie und mich.

Meine Eltern wuchsen in der Sowjetunion auf, wo der Mangel so groß war, dass man stundenlang anstehen musste für einen Liter Milch. Die politische Lage war instabil, das Land stand zeitweise am Rande eines Bürgerkriegs. Europa war für meine Eltern das Märchenland hinter der Mauer. Sie wussten kaum etwas über Deutschland – und lebten dennoch in dem Gefühl, dort müsse alles gut sein.

Meine Eltern, obwohl Akademiker, waren damals genauso überfordert, wie viele Flüchtlinge es heute sind. Von unserer ersten Sozialhilfe in Deutschland kaufte mein Vater 1992 nicht Lebensmittel, sondern Spielzeug. Mein Bruder bekam eine Plastikpistole, ich einen Teddybären mit roter Knopfnase. Die paar Hundert Mark waren mehr, als meine Eltern je besessen hatten.

Einmal im Monat musste mein Vater aufs Amt, um die Sozialhilfe abzuholen. Am Tag vorher paukte er Vokabeln, lernte Sätze auswendig: »Wir kommen aus St. Petersburg«, »Wir haben zwei kleine Kinder«. Wenn mein Vater von den Amtsgängen zurückkam, war sein Rücken schweißnass vor Angst.

Meine Eltern lernten Deutschland mit der Beklommenheit eines Kindes kennen, das sich im Dunkeln durch einen Raum tastet. Wenn sie etwas berührten, das ihnen Angst machte, schreckten sie zurück. Ständig fürchteten meine Eltern, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Meine Mutter war dauernd den Tränen nahe. Sie, die Literaturwissenschaftlerin, nahm aus Not eine Zeit lang Pizzabestellungen auf. Dann wurde sie entlassen, weil sie sich die deutschen Straßennamen nicht merken konnte.

Im Spätherbst 2015 bin ich jeden Tag damit beschäftigt, andere Asylbewerber aus dem Heim zu suchen. Ich bitte die Stadt Ludwigsburg um Hilfe, schreibe das Regierungspräsidium Stuttgart an und die Wohnungsbaugesellschaft, die das ehemalige Heim heute verwaltet. Wochenlang wechseln wir E-Mails und führen Telefonate. Ich kontaktiere Asylhelfer und Kirchenleute aus dem Ort. Mehrere Ehrenamtliche, die 1992 im  Lager geholfen haben,  sprechen mit mir. Doch sie haben keinen Kontakt zu den Flüchtlingen gehalten und erinnern sich nicht an Namen. In Zeitungsartikeln aus dieser Zeit kommen besorgte Anwohner zu Wort, aber kein einziger Flüchtling. Und alle Akten, Namenslisten, Belegungspläne sind inzwischen vernichtet.

Weil ich hoffe, dass einige unserer ehemaligen Mitbewohner noch im Umkreis leben, kontaktiere ich jeden Migrantenverein im Stuttgarter Raum. Ich verteile Flugblätter beim Gemeindetreffen der Eritreer. Telefoniere mit einem kongolesischen Vertreter und einem ghanaischen Kirchenvorsitzenden. Als ich herausfinde, wo der ehemalige Sprachlehrer meiner Eltern wohnt, fahre ich zu seinem Haus, um einen Brief einzuwerfen.

»Was ist nur los mit dir?«, fragt meine Mutter. Jahrelang habe ich nicht an das Lager gedacht. Nun bin ich besessen davon.

***

Yll Osmani, 52 Jahre, Bauunternehmer.

»Ich wusste, dass ich weg muss aus Kosovo, als der Brief kam. Ich sollte zur Polizei kommen, stand darin. Es war in Jugoslawien der Anfang der Säuberungen, und so eine Vorladung bedeutete das Ende. Du verschwindest, und niemand hört je wieder von dir. Da habe ich ein paar Sachen eingepackt und bin losgefahren.

Mein Leben lang hatte ich Angst vor dem Staat. Sie ist überall: in deinem Kopf, in deiner Lunge. Du kannst nicht atmen, so sehr fürchtest du dich. Sobald ich die Grenze überschritten hatte, war die Angst weg. Das war das beste Gefühl. Ich hatte Bekannte in Stuttgart, deshalb fuhr ich dorthin. Später wurde ich in eine Unterkunft in Ludwigsburg geschickt.

Das Haus war einfach schrecklich. Kleine Räume, nichts zu tun. Ich wollte nur raus da. Zum Glück ist mein Asylantrag bald bewilligt worden. Da hab ich mir sofort einen Job gesucht. Ich habe eine Baustelle gesehen und dort einfach gefragt: Braucht ihr Leute? Der Chef hat gemerkt, dass ich korrekt bin, und mich auf Probe eingestellt. Korrekt bedeutet: Wenn dein Kollege ein Bier zahlt, zahlst du das nächste. So habe ich auch Deutsch gelernt: Ich bin mit den anderen Arbeitern Bierchen trinken gegangen, Fußball schauen.

Wir wohnen in einem Häuschen in der Altstadt von Ludwigsburg. Ich habe eine Albanerin geheiratet, meine Schwester hat das arrangiert. Mir ist das eigene Blut schon wichtig. Ich würde mir wünschen, dass meine Töchter Vanessa und Victoria auch mal Albaner heiraten. Aber wenn sie sich Deutsche aussuchen, kann ich natürlich nichts machen. In dieser Hinsicht bin ich deutsch geworden.

Seit die Flüchtlinge nach Deutschland kommen, interessiere ich mich zum ersten Mal für Politik. Ich sehe fern und möchte weinen. Diese Angela Merkel – ich bewundere sie. Deutschland ist ein Wunder. Hier muss niemand Angst haben, und das Gesetz beschützt dich. Wenn die Ausländer das sehen, werden sie denken wie ich und sich anpassen.«

***

Meine Eltern wollten in Deutschland zur Ruhe kommen. Doch das Leben im Wohnheim war alles andere als beschaulich. Mein Vater musste jeden Tag zum Deutschkurs, konnte aber nachts nicht schlafen, weil unsere Nachbarn im Wohnheim lärmten. Ein paar Bewohner verschoben Autos nach Polen und wickelten nachts Geschäfte ab. Sie tranken Wodka und schrien sich an. Die deutschen Anwohner, obwohl Hunderte Meter entfernt, beschwerten sich über die Lautstärke.

Wir hatten einen sicheren Asylstatus, doch ausziehen konnten wir nicht. Ohne Job bekommt man in Deutschland keine Wohnung – und ohne Wohnung keinen Job. Wie sollte es weitergehen? Ein Heimbewohner, ein russischer Ingenieur, mietete sich ein Postfach an, um nicht angeben zu müssen, dass er im Lager lebte. Vom Staat gab es nur so viel Unterstützung wie nötig. Behördengänge, Bewerbungsschreiben – all das mussten meine Eltern allein erledigen.

Die Wendung kam – ganz wie bei Kindern – durch einen Erwachsenen, der uns an die Hand nahm. Im Winter 1992 kaufte mein Vater über eine Zeitungsannonce einen gebrauchten Computer. Mit dem Zug fuhr er vierzig Kilometer, um das Gerät abzuholen. Der Besitzer, ein schwäbischer PC-Spezialist im Alter meines Vaters, bot ihm an, auf dem Rückweg den Computer mit dem Auto zu transportieren. Als er vor unserem Asylbewerberheim hielt, erschrak der Mann.

Am nächsten Tag kam er wieder und brachte Spielsachen für meinen Bruder und mich mit. Er bot meinem Vater einen Praktikumsplatz in seiner Firma an, später korrigierte er seine Bewerbungsschreiben. So bekam mein Vater seine erste Arbeitsstelle und wir unsere erste richtige Wohnung.

Auch Yll Osmani, den die Pressestelle in Ludwigsburg für mich ausmachte, hatte solch einen »Hilfsmenschen«: den Unternehmer, der ihn auf der Baustelle anstellte, obwohl Osmani kaum Deutsch sprach und keine Arbeitserfahrung vorzuweisen hatte. Bis heute schreibt er seinem ehemaligen Chef jedes Weihnachten eine Postkarte.

Solche Menschen schienen mir in den Neunzigern selten. Wenige Helfer teilten sich auf viele Flüchtlinge auf. Die Mehrheit der Deutschen ignorierte uns oder reagierte mit Unverständnis. Im Schwimmbad wurden meiner Mutter böse Blicke zugeworfen, weil sie meinen Bruder und mich nicht vor der Sonne schützte. Dabei wusste sie nicht, dass es so etwas wie Sonnencreme überhaupt gibt. Mein Vater, aufgewachsen mit sowjetischem Gehorsam, musste sich von den Erziehern im Kindergarten belehren lassen, dass deutsche Erziehung nicht ausschließlich  auf Strenge beruht. Ein Gedanke, der meinem Vater nie zuvor gekommen war.

Meine Eltern lernten nicht nur Deutsch, sondern auch Toleranz und Teilhabe. Ohne es zu merken, erzogen die Deutschen sie mit.

In jeder Gesellschaft gibt es Regeln, nach denen das Zusammenleben funktioniert. In Russland lauten sie: Trau nur deinen engsten Freunden und niemals dem Staat. Mein Vater lernte, dass es bei einer Jobbewerbung nicht hilft, den Arbeitgeber mit Whisky zu bestechen. Dass die Deutschen gerecht sind, aber auch distanziert.

Andere Eigenschaften werden meine Eltern niemals los. Meine Mutter ist in den bitteren Jahren der Sowjetzeit aufgewachsen  und in ständiger Sorge, ihre Kinder nicht ernähren zu können. Bis heute benimmt sie sich, als wäre das Leben ein pausenloser Kampf um Ressourcen. Sie teilt niemals mit Fremden und weist auch mich an, es nicht zu tun. Humanismus und selbstlose  Nächstenliebe sind ihr fremd, weil sie diese Dinge in Russland nie erlebt hat.

Je länger ich nach unseren früheren Weggefährten in jenem Flüchtlingslager suche, desto mehr lerne ich über die damalige Zeit. Mitte der 90er Jahre befanden sich fast 400.000 Flüchtlinge aus Jugoslawien in Deutschland. Doch nicht einmal jeder Zehnte lebt heute noch im Land. Der Rest wurde abgeschoben, als der Jugoslawien-Krieg endete, oder ging freiwillig.

Was die aktuelle Flüchtlingswelle bedrohlicher als die damalige wirken lässt, ist die Angst vor islamistischem Terror. Als wir 1992 einwanderten, war der 11. September 2001 noch fern und den Islamischen Staat gab es nicht. Auch damals trugen die Flüchtlinge Kopftuch – doch niemand nahm es als Feldzug wahr.

Ich erkenne, dass der aktuelle Ausnahmezustand ein gefühlter ist. Der Takt der Meldungen ist schneller geworden: Wer will, kann das Lied der Flüchtlingskrise in Dauerschleife hören. Es gibt so viele Liveticker, Eilmeldungen und Tweets, dass man glauben muss, die Flüchtlinge würden neuerdings Deutschland bevölkern. Dabei sind sie im Stadtbild oft unsichtbar. In Ludwigsburg leben aktuell etwa 1200 Flüchtlinge. Während meiner Recherche streune ich tagelang durch die Stadt – mir fällt nicht ein einziger auf.

Ich finde den evangelischen Pfarrer, der meine Eltern 1992 am Zaun über redete, doch in das Lager einzuziehen, weil es eben nichts anderes gab. Den  Sozialarbeiter, der sich damals um die Flüchtlinge im Haus kümmerte. Sie  sehen ebenfalls die Ähnlichkeit zu den Neunzigerjahren. »Auch damals hatten wir das Gefühl, die Schmerzgrenze erreicht zu haben«, erzählt mir der ehemalige Leiter der Unterkunft. »Auch damals hatte die Bevölkerung Angst.«

***

Herr und Frau D., 56 und 52 Jahre, Putzkraft und Hausfrau.

»In unserem Dorf in Kurdistan gab  es keine Schule. Wir haben Kühe und Pferde gehalten, Weizen und Hafer angebaut. Es war ein schönes Leben. Dann haben die Türken uns beschuldigt, für die PKK zu arbeiten. Man warf uns vor, Terroristen zu unterstützen. Da haben wir falsche Pässe gekauft und ein Ticket nach Deutschland. Das erste Mal im Flugzeug – das war wie ein Traum.

Das Wohnheim dagegen war eine  Katastrophe. Wir dachten, dass wir in Deutschland eine schöne Wohnung bekommen. Stattdessen haben wir mit Menschen aus Dutzenden Ländern gelebt. Es gab zum Glück ein paar andere kurdische Familien, mit denen haben wir uns angefreundet. Wir sind spazieren gegangen, haben zusammen gegessen. Es gab ja sonst nichts zu tun.

Fast zwei Jahre mussten wir warten, bis unser Asylantrag bewilligt wurde. Ein Sozialarbeiter hat uns geholfen, eine Wohnung zu finden. Wir sollten dann einen Deutschkurs machen, aber das war schwierig für uns. Wir können nur ein paar Worte: »Deutsch nicht gut«, »Guten Tag«. Aber mehr brauchen wir eigentlich bis heute nicht.

Wir haben kurdische Freunde, und auf der Arbeit sind auch viele Ausländer. Wenn das Geld nicht reichte, hat das Sozialamt eben was dazugegeben. Was aus uns wird, ist egal – den Kindern soll es gut gehen. Wir haben fünf. Drei haben die Hauptschule abgeschlossen, sie arbeiten und verdienen ihr eigenes Geld. Ein Sohn hat sogar eine Deutsche geheiratet. Sie lernt jetzt Kurdisch, und wir bringen ihr bei, wie man bei uns kocht. Heimat ist wichtig, es ist gut, dass sie das weiß.

Wir fühlen mit den Flüchtlingen – sie haben ja nichts. Aber sie sind auch eine Last für Deutschland. Wie soll das Land so viele Menschen versorgen? Das beunruhigt uns. Die Flüchtlinge, die schon hier sind, müssen sich auf jeden Fall an die Gesetze halten. Wir haben zum Beispiel gelernt, dass die Polizei hier dein Freund ist. In der Türkei hat uns der Staat nie geholfen.

Integration? Das Wort kennen wir nicht. Wir spüren den Zwang, deutsch zu werden. Ist das Integration?«

***

Nach monatelanger Suche finde ich insgesamt fünf Familien, die im Lager gelebt haben. Neben Lena Gorelik, Yll Osmani und der Familie D. sind das ein junger Russe, der mit seiner Großmutter nach Deutschland kam und heute als Grafikdesigner arbeitet. Und eine syrisch-christliche Familie, deren Ausbildung nicht anerkannt wurde und die deshalb heute einen Schlüsseldienst betreibt. Sie alle waren Flüchtlinge: einige zur selben Zeit wie ich, andere kurz vor oder nach uns.

Am besten integriert sind natürlich jene, die einen hohen Bildungsgrad haben und den Antrieb, sozial aufzusteigen. Und die das Transithaus, die Zone zwischen legaler und illegaler Einwanderung, schnell wieder verlassen durften. Auf diese Dinge hat die deutsche Gesellschaft keinen Einfluss. Auf andere hingegen schon.

Jede Familie, die ich traf, hat bei ihrer Integration Opfer gebracht. Niemandem ist es leicht gefallen, sich in Deutschland einzugliedern. Doch mir fiel auf: Wer gute Erfahrungen mit den Deutschen gemacht, sie als freundlich und offen empfunden hatte, war auch eher bereit, ein Teil von ihnen zu werden. Einige Flüchtlinge erinnern sich an Sachbearbeiter, von denen sie mit Respekt behandelt wurden, an Ehrenamtliche, die mehr taten als nötig. Familie D. dagegen fällt kein einziger Deutscher ein, der sie besonders unterstützt hat. Ein Sozialarbeiter, der damals im »Lager« arbeitete und heute ein Asylbewerberheim in Ludwigsburg leitet, formuliert es so: Wenn man den Migranten bei der Integration helfen wolle, müsse man vor allem eines tun – sie auf der Straße anlächeln.

Gäbe es so etwas wie eine »Integrationsskala«, würden einige der ehemaligen Bewohner darin höher stehen als andere. Ein Reihenhaus mit gestutztem Rasen gäbe vermutlich besonders viele Punkte, schlechte Deutschkenntnisse besonders wenige. Aber wer würde über die Vergabe entscheiden? Und wie viele Punkte wären nötig, um »deutsch genug« zu sein?

Bald soll es ein Integrationsgesetz geben: Zum ersten Mal versucht Deutschland, Vorgaben für Flüchtlinge zu formulieren. Viele finden solche Gesetze rassistisch oder hinderlich. Ich glaube, es ist einfacher, sich an Regeln abzuarbeiten, als sich irgendwie nebulös »zu integrieren«. Und ich denke, es wird Zeit, dass Deutschland diskutiert, wie viel Integration es von den Flüchtlingen erwartet. Niemand hatte von Familie D. verlangt, die deutsche Sprache zu lernen. Als sie ihren Sprachkurs abbrachen, hatte das keinerlei Konsequenzen. Warum also sollten sie Deutsch lernen, wenn es doch ohne ging?

Auch an anderer Stelle verändert sich das Land. Wer wollte, konnte die Flüchtlinge in den Neunzigerjahren ignorieren, und die meisten unserer Nachbarn taten das. Dass sich kein einziger Asylhelfer an die Flüchtlinge erinnert, scheint mir kein Zufall zu sein. Man hielt es vermutlich nicht für nötig, sich Namen zu merken: Keinem der Helfer kam offenbar der Gedanke, dass die Menschen aus dem Wohnheim für lange Zeit im Land bleiben würden.

Das Deutschland von heute ist ein anderes. Heute engagieren sich Hunderttausende, es gibt Fußballvereine und Musikschulen, die Flüchtlinge aufnehmen, Germanisten, die in ihrer Freizeit unterrichten. In einigen Volkshochschulen sind die Arabischkurse ausgebucht, weil die Deutschen lernen wollen, sich mit Syrern und Irakern zu unterhalten. Noch immer fühlen sich viele Deutsche unwohl mit den Fremden. Dennoch ist die Bereitschaft, ihnen die Hand zu reichen, ungleich größer als 1992.

Und obwohl die Flüchtlinge diese Hilfe damals nicht hatten, hat sich Deutschland nicht abgeschafft. Die Wirtschaft war angeschlagen: Deutschland musste neben der Flüchtlingswelle die Wiedervereinigung schultern. Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit nicht dauerhaft gestiegen.

Meine Eltern leben heute getrennt, doch sie haben beide sichere Stellen: Mein Vater arbeitet als Informatiker,  meine Mutter hat eine Umschulung zur  Finanzbuchhalterin gemacht. In ihrer Freizeit berät sie die Stadtbücherei in Fragen russischer Literatur. Mit dem Mann, der ihm damals den Computer verkaufte, trifft sich mein Vater heute regelmäßig zu Maultaschen und Bier.

Natürlich waren meine Eltern Akademiker und den Deutschen schon rein optisch ähnlicher als der Großteil der aktuellen Flüchtlinge. Es ist schwieriger, Menschen zu integrieren, die durch die Wüste gewandert und in Schlauchbooten um ihr Leben gekämpft haben. Sie einzugliedern, wird mehr Zeit kosten, Mühe und Geld. Doch es ist machbar.

»Wir Russen sind das härteste Volk der Welt«, sagt mein Vater, als ich ihm bei einem Besuch von meiner Recherche erzähle. »Und selbst wir haben gelernt, wie man in Deutschland zu leben hat.«

Kann Deutschland es schaffen? Ich denke: Wenn Deutschland es damals geschafft hat, schaffen wir es heute erst recht.

»Da hast du deine Lösung«, sagt meine Mutter. »Kannst du die Vergangenheit jetzt endlich ruhen lassen?« Noch nicht.

***

An einem Freitag im Frühjahr 2016 nehme ich von Berlin einen Zug nach Ludwigsburg. Dann weiter mit dem Bus. Das letzte Stück gehe ich zu Fuß. Und obwohl mir Google Maps anzeigt, dass ich geradeaus muss, biege ich auf einem Feldweg instinktiv nach links ab.

Die Stadt ist näher an das Asylbewerberheim gerückt. Wo früher Brachfläche war, stehen heute Einfamilienhäuser mit Schaukeln im Garten. Das Metallgitter gibt es nicht mehr, stattdessen einen Bauzaun. Ich schlüpfe hindurch.

Der Platz vor den Häusern schien mir als Kind riesig. In Wahrheit passen kaum zwei parkende Autos auf den Hof. Im Flur unseres ehemaligen Wohnblocks hängt noch die Hausordnung. Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr. Ab 22 Uhr Nachtruhe.

In dem Gebäude wohnen keine Asylbewerber mehr, sondern Obdachlose. Der Hausmeister hat sich bereit erklärt, mir die Tür zu unserem damaligen Zimmer zu öffnen. Als wir den Raum betreten, lugt ein Lockenkopf verschlafen unter einer Bettdecke hervor.

Das Zimmer ist vollgestellt mit Regalen, auf dem Boden stehen ordentlich aufgereiht Schuhe, über den Sperrholzmöbeln hängt Kleidung. Ein dunkler Holztisch trennt den Raum. Auf diesen zwanzig Quadratmetern lebten damals vier Personen. Es ist das größte Zimmer im Wohnheim.

Die Stockbetten sind verschwunden, aber der Kühlschrank steht noch an derselben Stelle. Ein Spind, ein brauner Schrank, an der Wand ein Pin-up. »Und hier haben Sie mal gewohnt?«, fragt der Obdachlose ungläubig.

***

Lange habe ich niemandem von diesem Haus erzählt. Ich habe mich dafür geschämt, an solch einem Ort gelebt zu haben.

Als ich im Hof stehe, wird mir klar, dass ich aussehe wie meine deutschen Freunde, dass ich rede wie sie. Aber im Inneren bin ich anders.

Ich trage die russische Härte in mir, von der mein Vater spricht. Die Angst meiner Eltern, mich durch einen Fehler lächerlich zu machen. Den Druck, besser sein zu müssen als die deutschen Kinder.

Als Migrant lernst du schnell, dass du nur Erfolg hast, wenn du nicht störst, nicht auffällst, dich anpasst, sodass niemand anderes es muss. Ich bin die Integrationstreppe hochgesprintet – und atemlos an der obersten Stufe angekommen.

All das sieht man mir nicht an. Für die meisten Deutschen bin ich der perfekte Ausländer, weil nichts an mir erkennbar fremd ist.

Nicht jeder Flüchtling wird so deutsch werden wie ich. Und vielleicht, denke ich, ist das gut so.

Ich verlasse das Gelände und sehe nicht mehr zurück.

 

 

Dieser Beitrag ist am 1.  Juli 2016 im Süddeutsche Zeitung Magazin erschienen. Das Gesprächsforum „Petersburger Dialog“ hat Alexandra Rojkov dafür im Juli 2019 mit dem Peter-Boenisch-Gedächtnispreis ausgezeichnet. Wir danken ihr für die Erlaubnis, ihren Artikel nachdrucken zu dürfen.

Alexandra Rojkov
geboren in St. Petersburg, wuchs in Schwaben auf. Seit 2015 arbeitet sie als freie Journalistin. Ihre Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet.