Donnerstag, 25. April, 2024

Verdrehte Zungen

Von Viktor Loschak

In der Ausgabe Mai (#9) des Petersburger Dialogs ist ein Beitrag des russischen Chefredakteurs dieser Zeitung Viktor Loschak erschienen: „Geisel der Hoffnung“. Anna Veronika Wendland, Forschungskoordinatorin in der Direktion des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft in Marburg, wandte sich in einem Brief an die Redaktion, um Loschaks Vorwurf eines „Totalverbots der russischen Sprache“ in der Ukraine zu widersprechen. Wir dokumentieren ihr Schreiben – und hier die Antwort Viktor Loschaks.

 

In vierzig Jahren journalistischer Praxis ist mir nur eine einzige Organisation begegnet, die genau wusste, was man schreiben darf und was nicht. Sie hieß KPdSU. Immerhin versagen Sie, liebe Frau Wendland, uns nicht völlig das Recht, über die Ukraine zu schreiben, weil der russisch-ukrainische Konflikt die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland doch wesentlich verschlechtert hat. Und das ist unstrittig.

Ich gestehe zu, dass ich bei der Antwort an Sie ein gewisses Unbehagen empfinde. Wir haben sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das Land, das ich liebe, und sehr unterschiedliche Erfahrungsmaßstäbe. Sie sind, wie Sie schreiben, „Historikerin, Kennerin der russisch-ukrainischen Beziehungen“, ich bin nur ein Journalist.

Aber meine Familie lebt seit vielen Generationen in der Ukraine: Ich bin dort geboren, habe die Universität besucht, fing an zu arbeiten. Meine Eltern und deren Eltern liegen in Saporoschje, Odessa, Charkow begraben. Meine gesamte Schulzeit habe ich jedoch in Russland verbracht, das heißt, meine ganze Lebenserfahrung ist ukrainisch-russisch. Damit bin ich nicht allein. Die Schicksale Hunderttausender Menschen sind zwischen diesen beiden Ländern verflochten.

Um nicht mehr zur Vergangenheit zurückzukehren, sage ich Ihnen: Wenn man heute in der Ukraine allem Russischen die Aufmerksamkeit schenken würde, die man früher dem Ukrainischen in einer der am stärksten russisch geprägten Städte dieses Landes widmete, nämlich in Odessa, dann würden die Menschen, die in den Traditionen der russischen Sprache und Kultur erzogen wurden, sich jetzt vollkommen glücklich und behütet fühlen: Es gab ein russisches und ein ukrainisches Theater, zwei russische und zwei ukrainische Zeitungen, Verlagswesen, Fernsehsender und Radio waren hauptsächlich ukrainisch, die höhere Bildung, zum Beispiel, russisch, da die gesamte ernsthafte wissenschaftliche Literatur in der UdSSR auf Russisch erschien. Die transnationale Politik im Land bestimmte eine Staatsmacht, an deren Spitze von Stalin bis Andropow Personen standen, die in der Ukraine geboren waren, und die nie einen Hehl aus ihrer Sympathie für dieses Land machten. Das Geschenk Krim ist in diesem Kontext zu sehen.

All dies wird von den neuen nationalen Ideologen jetzt als „Unterdrückung und Auslöschung alles Nationalen“ bezeichnet, in Ihrem Brief noch schlimmer als „imperiales Hegemonialverhältnis“. Ich verstehe, dass Sie, als Spezialistin für Galizien, das heißt die Westukraine, mit seiner tragischen Geschichte, das alles in der Tat so wahrnehmen.

Vor einigen Monaten nahm ich in Kiew an einer Diskussion teil, die von einer deutschen Stiftung ausgerichtet wurde, und hörte von der stellvertretenden Direktorin eines Instituts für Geschichte eine höchst befremdliche Behauptung: Unter der Sowjetmacht sei man für den Gebrauch der ukrainischen Sprache erschossen worden. Und ganz selbstverständlich ergab sich daraus: Na schön, jetzt ist unsere Zeit gekommen. Das kürzlich von der Rada, dem ukrainischen Parlament, verabschiedete Sprachengesetz, das Ihnen so gefällt, das ist eben diese „Zeit“.

Für mich aber käme ein Verbot des Russischen in der alltäglichen Kommunikation einem „Totalverbot“ gleich. Für eine riesigen Teil des Landes, und zwar den ökonomisch am besten entwickelten, ist Russisch ganz einfach die Muttersprache.

Es hat eine Russifizierung gegeben, jetzt ist daraus eine Ukrainisierung geworden. Finden Sie, das ist in irgendeiner Weise besser für die Menschen, die am linken Ufer des Dnepr leben? Der russischsprachigen Welt der Ukraine, Millionen von Menschen, wird eine fremde Kultur aufgezwungen.

Es ist paradox, dass auf den Ruinen der UdSSR ein jeder, der im Chefzimmer des Landes Platz nimmt, entscheiden kann, in welcher Sprache Millionen von Bürgern ihre Kinder erziehen sollen, in welcher Sprache sie lesen und denken sollen. Diejenigen, welche die Ukraine aus der UdSSR auf den demokratischen Weg bringen sollen, waren immer der Meinung, dass man in Europa die ausgewogensten, sozial am besten abgestimmten Entscheidungen treffe. Sogar die ersten Jahre unter Putin waren noch eine Zeit der Europaverliebtheit, speziell der Deutschlandverliebtheit.

Seitdem verstehen wir, Russen, Ukrainer und Europäer, einander immer weniger, unsere Wertvorstellungen und Lösungsansätze sind auseinandergedriftet. Wer kann mir erklären, warum Europa all diese sprachlichen Verwirrungen, verdrehten Arme und Zungen von Millionen von Menschen in der Ukraine akzeptiert, nur um den Preis einer einheitlichen Staatsmaschine? Warum orientiert man sich an dem monosprachlichen Frankreich oder an Deutschland und nicht an Kanada oder Belgien, wo man der Verbreitung zweier Sprachen Rechnung trägt, was ja zweifellos auch für die Ukraine sinnvoll wäre?

Sie haben es leichter, Sie sind fest davon überzeugt, dass die „Ursache der Schießereien“ im Donbass „eindeutig belegbar die aktive Injektion von Gewalt durch Außenakteure von russischem Boden aus“ ist. Meiner Ansicht nach ist alles noch schwieriger und schlimmer: Die Folgen von Girkins „Schurkenstück“, der in Moskau geborenen Theorie des „russischen Frühlings“ in der Ukraine, der Schüsse der Buk-Raketen (wenn es den Holländern gelingt, ihre russische Herkunft zu beweisen), werden die kommenden Generationen unserer Bürger und Politiker ausbaden müssen.

Paradoxerweise schweißt die Empörung über dieses Verhalten Russlands die Ost- und Westukraine viel mehr zusammen als sämtliche Gesetze und Almosen. Sie aber, Frau Wendland, bei allem Respekt vor Ihnen als Expertin, werden niemals wirklich einschätzen können, was dort geschehen ist, weil Sie nicht verstehen, dass es sich trotz aller russischen „Soldaten auf Urlaub“ um einen Bürgerkrieg handelt; dass für den Kumpel im Donbass die Wahrscheinlichkeit, in einem alten Schacht umzukommen oder im Krieg ungefähr gleich ist; dass die historische Bedeutung des großen Vaterländischen Kriegs die Grenze ist, die man im Umgang mit den Russen (oder mit den Russischsprachigen, wenn Sie so wollen) nicht überschreiten sollte; diese Bogensehne des Nationalismus darf man nicht unbegrenzt dehnen.

Begonnen hat man damit unter anderem durch die parlamentarische Diskussion über das Verbot der russischen Sprache nach den Ereignissen auf dem Majdan. Dieses Gesetz wurde in der Tat nicht verabschiedet, aber ich habe den Eindruck, dass schon die Beratung darüber zu einem der Zündmechanismen des Kriegs wurde.

Anders als Ihnen fällt es mir schwer, Schwarz und Weiß in diesem Konflikt auseinanderzuhalten, einem Konflikt, der sich so tragisch gegen die russische Sprache und ihre Träger gewendet hat. Sie mögen dies der Tatsache zuschreiben, dass ich lange in Odessa gelebt habe, wo Nationalisten 38 Menschen im Gewerkschaftshaus verbrannten, wobei man heute, vier Jahre später, nicht über die zu Gericht sitzt, die das Feuer legten, die in den sozialen Netzwerken ihre Fotos vor dem Hintergrund verkohlter Leichen posten, sondern über die, die nicht mitverbrannt sind.

Ich möchte Sie in Ihrem beschaulichen Marburg nicht mit diesen Details behelligen, zumal Sie sehr gut wissen, worüber man mit den Russen reden muss und worüber mit den Ukrainern. Ich selbst, wie Sie sehen, komme mit dieser Trennung nur schlecht zurecht.

Viktor Loschak
ist Chefredakteur der russischen Ausgabe des Petersburger Dialogs. Er beobachtete die Wahl in seiner Heimatstadt Odessa.

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