Dienstag, 23. April, 2024

Überraschung: Beethoven und Russland

Von Klaus Harer Bild: Shutterstock

Pjotr Iljitsch Tschaikowski bekam von seinem Lehrer Anton Rubinstein für seine Abschlussprüfung am Petersburger Konservatorium eine wahrhaft furchterregende Prüfungsaufgabe: Er sollte eine russische Kantate auf Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ schreiben. Innerhalb eines Monats schuf Tschaikowski ein Werk mit dem Titel „An die Freude“ für Solisten, Chor und Orchester, das kurz darauf, im Dezember 1865, im Konservatorium aufgeführt wurde. Tschaikowski ließ die Kantate unveröffentlicht, denn, so schrieb er noch 1890 seinem Verleger Jürgenson, sie sei „ein Jugendwerk ohne Zukunft“. Es sei „peinlich, mit Beethoven zu wetteifern“.

Auch eingefleischten Tschaikowski-Liebhabern blieb sie bis heute unbekannt. Die deutsche Erstaufführung der Kantate fand im Rahmen des Russlandschwerpunkts auf dem Usedomer Musikfestival 2012 statt und war in mehrfacher Hinsicht eine musikalische Offenbarung. Das Philharmonische Orchester Nowosibirsk, ein Quartett von fabelhaften Sängersolisten und die Rundfunkchöre aus Hamburg und Berlin präsentierten unter der Leitung von Thomas Sanderling ein ausdrucksstarkes und mitreißendes Erstlingswerk des jungen Tschaikowski. Die Kontrastierung mit Beethovens Neunter Sinfonie – eine kluge Idee der Usedomer Programmgestaltung – vermittelte den Hörern gleichzeitig den spürbar großen Abstand Tschaikowskis zu seinem deutschen Vorläufer und macht anschaulich, welche zentrale Bedeutung Beethoven als Maßstab und Ansporn in der russischen Musikentwicklung des 19. Jahrhunderts hatte.

Zu Beethovens Lebzeiten stand Russland in einem sehr dynamischen Entwicklungsprozess. Im Zuge der petrinischen Reformen von etwa 1700 an entstand mit der Übernahme europäischer höfischer Sitten und gesellschaftlicher Lebensformen auch ein ganz neuer Bedarf an weltlicher Musik, die in der traditionellen russischen Hochkultur aufgrund der orthodoxen Restriktionen zuvor keinen Platz gehabt hatte. Dieser Bedarf konnte nur durch ausländische Musiker gedeckt werden, die nach und nach die Strukturen für eine eigene russische Musikentwicklung aufbauten. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelten sich so in den Residenzstädten und auf einzelnen Adelsgütern musikalische Aktivitäten, bei denen zunehmend auch russische Musiker eine Rolle spielten.

Die europäische Musikkultur, die zugleich auch Oper und Ballett umfasste, eroberte schnell die Herzen der gesellschaftlichen Elite Russlands. Die kulturelle Öffnung nach Westen, die territorialen Zugewinne Russlands im Baltikum und in Polen sowie der wachsende Einfluss eines neuen, international vernetzten Dienstadels machten den europäischen Lebensstil, zu dem eben auch die weltliche Musik gehörte, vor allem bei den gesellschaftlichen Eliten beliebt. Andererseits waren die russischen Residenzen attraktive Reiseziele für Virtuosen, die sich von den sehr wohlhabenden russischen Mäzenen ertragreiche Engagements erwarten konnten.

Es gehörte zum kultivierten Lebensstil des höheren Adels, sich mit Musik zu beschäftigen und ein Instrument zu spielen. Als Agenten, die in den europäischen Musikmetropolen Ausschau nach Sängern für die kaiserlichen Theater und nach Virtuosen für Orchester- und Kammermusik Ausschau hielten, dienten oft die Diplomaten. Der russische Gesandte in Wien, Fürst Dmitri Michajlowitsch Golizyn, engagierte etwa den Violinvirtuosen Anton Ferdinand Titz für den Petersburger Hof. Titz, der später der Geigenlehrer des Thronfolgers Alexander wurde, war es auch, der bei Hof das erste feste Streichquartett in Russland gegründet haben soll, in dem Mitglieder des Hoforchesters gemeinsam mit adeligen Amateuren musizierten.

Dass Beethoven dem jungen, Geige spielenden Kaiser Alexander im Jahr 1803 seine drei Violinsonaten op. 30 widmete, ist vermutlich dem Rat des Grafen Andrej Kirillowitsch Rasumowski zu verdanken. Rasumowski, seit 1792 russischer Gesandter in Wien, sorgte Jahre später dafür, dass Beethoven für diese Widmung auch die erwartete Belohnung erhielt.

Bekanntlich gingen Rasumowskis Beziehungen zu Beethoven jedoch viel weiter. Als leidenschaftlicher Liebhaber der klassischen Kammermusik nahm der russische Graf das damals berühmte Schuppanzigh-Quartett in seine Dienste,

das die meisten der Streichquartette Beethovens mit dem Komponisten einstudierte. In diesen Jahren entstanden die drei „russischen“ Streichquartette op. 59, Graf Rasumowski gewidmet, in denen Beethoven auf sehr originelle Weise Melodien aus der Sammlung russischer Volkslieder von Iwan Pratsch (1790) verwendete.

Ein weiterer russischer Mäzen war der junge Fürst Nikolaj Borisowitsch Golizyn, der Beethoven wohl bereits zur Zeit der Entstehung der Rasumowski-Quartette in Wien kennenlernte. Nachdem er sich in den napoleonischen Kriegen als Offizier ausgezeichnet hatte, nahm Golizyn seinen Abschied aus der Armee und widmete sich verstärkt seinen musikalischen Interessen. 1822 schrieb er an Beethoven und bestellte bei ihm drei Streichquartette, die später als die Golizyn-Quartette berühmt wurden. Auf Golizyns Initiative ist es auch zurückzuführen, dass die Missa Solemnis op. 123, Beethovens monumentales Spätwerk, 1824 in St. Petersburg uraufgeführt wurde.

Schon zu Beethovens Lebzeiten waren viele seiner Werke in Russland bekannt. St. Petersburg und Moskau waren in Sachen Informationsfluss und Austausch von Noten im engmaschigen musikalischen Netzwerk mit Wien besser verbunden, als wir uns dies heute vorstellen mögen. Am kaiserlichen Hof und in den Adelshäusern wurde freilich vorwiegend weniger anspruchsvolle Musik als die Beethovens gepflegt. Auch darin unterschied sich St. Petersburg nicht grundsätzlich von Berlin oder Paris. In

St. Petersburg gab es unter den adligen Musikliebhabern jedoch einige ausgesprochen leidenschaftliche und einflussreiche Beethoven-Verehrer. Fürst

Golizyn war einer von ihnen.

Legendär war der musikalische Salon der Brüder Michail und Matwej Wielgorski, in deren Haus nicht nur

Beethovens Klavier- und Kammermusik, sondern auch seine Sinfonien und weitere Orchesterwerke in großer Besetzung zur Aufführung kamen. Graf Michail Wielgorski hatte im Jahr 1808 die Gelegenheit, in Wien die Erstaufführungen von Beethovens Fünfter und Sechster Sinfonie zu hören. Sein jüngerer Bruder Matwej, ein herausragender Violoncellist

und Schüler des berühmten Virtuosen und Beethoven-Freundes Bernhard Romberg, spielte im Streichquartett mit Musikern des Opernorchesters regelmäßig die jeweils aktuellen Werke der zeitgenössischen Kammermusik. Das Haus der Grafen Wielgorski erreichte bald den Status einer musikalischen Institution und die Brüder pflegten freundschaftlichen Kontakt zu zahllosen Komponisten und Virtuosen wie Hector Berlioz, Franz Liszt, Clara und Robert Schumann, Pauline Viardot, und Richard Wagner.

Auch der Salon des wohlhabenden Adeligen Fjodor Petrowitsch Lwow, der eine bedeutende Noten- und Instrumentensammlung besaß, war als musikalischer Treffpunkt bekannt. Lwow, der 1826 zum Direktor des Hofsängerchors ernannt wurde, ließ seinen begabten Sohn Alexej von dem berühmten Geiger Franz Böhm unterrichten. Böhm, der vermutlich durch die Vermittlung des russischen Gesandten Andrej Rasumowski aus Wien nach Petersburg gekommen war, spielte neben seiner Tätigkeit als Mitglied im Hoforchester und als Solist des Opernorchesters im Salon der Wielgorskis Quartett.

Über seinen jüngeren Bruder Joseph, der gleichzeitig in Wien mit dem Streichquartett von Ignaz Schuppanzigh musizierte, bestand ein enger Kontakt zu

Beethovens unmittelbarer Umgebung. So übernahm Joseph Böhm während Schuppanzighs Russland-Aufenthalt die Leitung des Quartett-Ensembles, mit dem Beethoven regelmäßig arbeitete. Beide Brüder waren übrigens offenbar nicht nur hervorragende Solisten und Quartettspieler, sondern auch erfolgreiche Pädagogen. Zu Franz Böhms Schülern zählten neben dem erwähnten Alexej Lwow auch Michail Glinka sowie diverse Mitglieder der kaiserlichen Familie.

Joseph Böhm bildete in Wien eine Reihe von großen Geigern aus, unter ihnen Joseph Joachim und Ferdinand Laub, aber auch Léon Minkus, der später in St. Petersburg mit seinen Ballettmusiken erfolgreich war. Franz Böhms Petersburger Schüler Alexej Lwow, der ein einflussreicher Regierungsbeamter wurde, verfügte offenbar über große Fähigkeiten als Solist wie als Kammermusikspieler. Er trat darüber hinaus auch als Komponist auf – die Musik der russischen Nationalhymne „Gott, schütze den Zaren“ war sein Werk.

Unter den Petersburger Quartettspielern findet sich auch ein bis heute bekannter und beliebter Dichter, der russische Beethoven-Zeitgenosse und Fabeldichter Iwan Krylow (1769-1844), dessen einprägsame Verse in Russland in aller Munde sind. In seiner Fabel „Das Quartett“ beschrieb er, wie ein tierisches Quartett aus Affe, Esel, Bock und Brummbär nach wenig erfolgreichen Versuchen, die Welt mit seiner Kunst zu beglücken, sich bei der Nachtigall Rat holt:

„Die Noten haben wir, und auch die Instrumente / nur sag uns nun, wie wir uns setzen sollen!“ Worauf die Nachtigall antwortet, es komme bei der Musik auf das Können und das feine Gehör an, und zu bedenken gibt: „Ob kreuz und quer, ob vis-à-vis, / als Musiker taugt ihr doch nie!“

In bester äsopischer Tradition hat diese 1811 veröffentlichte Fabel eine außermusikalische Bedeutung, die von den Zeitgenossen verstanden wurde: Es ging dabei um die Einrichtung des Staatsrats im Jahr 1810, der aus vier Ministerien bestand, wobei der Leser die vier Minister den jeweiligen Tieren zuordnete. Dass der Fabeldichter für diese Satire eine musikalische Allegorie wählen konnte, hat allerdings damit zu tun, dass er selbst nicht nur gut Violine spielte, sondern mit besonderer Vorliebe im Quartett musizierte.

Der aus Riga stammende russische Beamte und Beethoven-Biograph Wilhelm von Lenz (1808-1883) erinnerte sich später, dass der Fabeldichter die Streichquartette

Beethovens besonders schätzte, sein liebstes aber sei das „C-Dur-Quartett mit der Fuge“ gewesen, also das dritte der berühmten Rasumowski-Quartette op. 59. Dies allerdings spricht dafür, dass Krylow tatsächlich ein exzellenter Kenner der Musik seiner Zeit war, denn diese „russischen“ Quartette galten den Zeitgenossen allgemein als schwierig und wenig fasslich.

In Moskau war von 1817 an der erfolgreiche und gefragte Klavierlehrer Franz Anton Gebel (1783-1843) tätig, der in Wien seine Ausbildung erhalten hatte und mit ersten Kompositionen hervorgetreten war. Zu seinen berühmten Moskauer Schülern gehörten die Schriftsteller Nikolaj Ogarjow und Nikolaj Stankewitsch, der Musikkritiker Nikolaj Melgunow sowie der Pianist Alexandr Villoin, der später als Lehrer großen Einfluss auf die Brüder Anton und Nikolaj Rubinstein hatte.  Melgunow schrieb mit großer Begeisterung über Gebel, der als Beethoven-Verehrer mit seinen öffentlichen Kammermusikabenden, die er in den 1830er-Jahren als erster in Moskau veranstaltete, wie Lenz besonders Beethovens Streichquartette propagierte.

Die Ratlosigkeit, mit der die Zeitgenossen die letzten Werke Beethovens aufnahmen, fand in der russischen Literatur einen einzigartigen Ausdruck in der wundervollen Erzählung des in Deutschland viel zu wenig bekannten Schriftstellers Wladimir Odojewski. Der sehr vielseitig und vor allem auch musikalisch hochgebildete Odojewski schrieb 1830, also bald nach Beethovens Tod, die Novelle „Beethovens letztes Quartett“, in dem er die Tragödie des Komponisten schildert, der seine eigene Musik nicht mehr hören kann und daran verzweifelt, dass ihn die Menschen nicht mehr verstehen. Bewegend ist an dieser hoffmannesquen Novelle das Bekenntnis des Dichters und Musikkenners, er könne dem genialen Komponisten in dessen letzten Werken nicht mehr folgen.

Beethovens Musik bewegt und irritiert ihre Hörer und ihre Interpreten noch immer. Sie ist nicht nur für die „russische Schule“, die mit den Brüdern Rubinstein ihren Anfang nahm, Maßstab und Ansporn. Der in Berlin lebende russische Pianist Alexander Melnikov hält ihn, den sowjetischen Schönbergschüler Philip Herschkowitz zitierend, nach wie vor für die Zentralfigur der europäischen Musik.

Der unmittelbaren Wirkung dieser Musik haben auch die politischen Beanspruchungen des 20. Jahrhunderts kaum geschadet. Wir wissen, dass Beethovens Neunte Sinfonie unter Hakenkreuzfahnen im von Nazideutschland okkupierten Paris aufgeführt wurde. Im Jahr 1941 musste sich die damals in Paris lebende russische Emigrantin Nina Berberowa in der Kino-Wochenschau Bilder vom Vormarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion ansehen, unterlegt mit Musik aus

Beethovens Neunter.

Andererseits wurde die „Ode an die Freude“ 1989 bei den studentischen Protesten auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz als Symbol der Demokratiebewegung verwendet. Weihnachten 1989 dirigierte Leonard Bernstein anlässlich des Falls der Berliner Mauer in beiden Teilen der Stadt Beethovens Neunte Sinfonie mit der Textänderung „Freiheit, schöner Götterfunken“.

Auch die junge Sowjetmacht feierte bereits 1918 ihre ersten musikalischen Triumphe mit Beethovens Neunter Sinfonie. In ihrem verdienstvollen Buch über die „Musikalische Mythologie der Sowjetepoche“ legte die Moskauer Musikwissenschaftlerin Marina Raku materialreich dar, wie Beethovens Vorbild schon in den ersten Jahren der Sowjetmacht als Orientierung für die internationalistische und proletarische Musik angepriesen wurde. Fester Bestandteil bei Begräbnissen von Revolutionshelden war der Trauermarsch aus Beethovens Dritter Sinfonie. Dieselbe Funktion hatte später auch der langsame Satz der Klaviersonate As-Dur op. 26. Die sowjetische Sonderbriefmarke zum Beethoven-Jahr 1970 zeigte neben einem Porträt des 200-jährigen Jubilars ein Notenblatt mit dem Beginn der Klaviersonate f-Moll op. 57, der „Appassionata“ – eine Referenz an den 100 Jahre jüngeren Wladimir Iljitsch Lenin, der diese Sonate der Überlieferung nach besonders geliebt haben soll.

Mit einer gewissen Erleichterung haben wir Grund zur Hoffnung, dass Beethoven zu seinem 250. Geburtstag weniger als politisches Symbol dienen wird, sondern als Maßstab und Anstoß für interessante künstlerische Begegnungen aller Arten. Vielversprechend war zum Auftakt des Beethovenjahrs 2020 die Uraufführung der Oper „Minona“ des estnischen Komponisten und Dichters Jüri Reinvere im Theater Regensburg. Die Handlung um die vermutete Beethoven-Tochter Minona von Stackelberg spielt übrigens teilweise im russischen Reich, in Reval, dem heutigen Tallinn.

Erfreulich ist auch die schöne Idee einer Konzertreihe unter dem Titel

„Beethoven und Tschaikowski“ im neuen Moskauer Konzertsaal Sarjadje, dessen Eröffnungskonzert Tschaikowskis Kantate „An die Freude“ mit Beethovens Neunter Sinfonie umschließt. So soll es sein.

Klaus Harer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Kulturforum östliches Europa e. V. in Potsdam. Er beschäftigt sich mit deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa

mit dem Schwerpunkt Musik und Kulturgeschichte.

Klaus Harer
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Kulturforum östliches Europa e. V. in Potsdam. Er beschäftigt sich mit deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa mit dem Schwerpunkt Musik und Kulturgeschichte.