Samstag, 20. April, 2024

Putin hat Russland dem Westen entfremdet

Von Katja Gloger Bild: Shutterstock

Natürlich ist Russland nicht Putin. Dieses weite Land umfasst so viel mehr als ihn. Und doch: Putin ist Russland. Wie kaum ein anderer personifiziert er Erfahrungen und Sehnsüchte dieser postsowjetischen Gesellschaft; wie kaum einem anderen gelang es ihm, in den nunmehr 20 Jahren seiner Regentschaft diesem Land und seinen Menschen den Stempel seiner Macht aufzudrücken. Als ob sich die so absurd klingende Prognose seines ehemaligen Stabchefs Wjatscheslaw Wolodin erfüllen würde: „Solange es Putin gibt, gibt es auch Russland. Ohne Putin – kein Russland.“

Heute kennt eine ganze „Generation Putin“ nur ihn als Präsidenten und faktischen Zaren einer wiederauferstandenen Großmacht, gar als Architekten einer neuen Weltordnung.

Gerade wieder hat der Präsident sein Land in helle Aufregung versetzt, zumindest Teile davon. Hat, schwupps, eine neue Regierung installiert, eine neue Generation von Staatsmanagern für eine Staatsökonomie. Sie sollen nun endlich die „nationalen Projekte“ vorantreiben, 400 Milliarden Dollar für Infrastruktur und Sozialausgaben. Damit sollen ökonomische Stagnation, Bevölkerungsschwund und Armut überwunden werden  –  dieses grassierende Krisengefühl.

Vor allem aber lässt der Präsident die Verfassung eilig auf seinen möglichen Machterhalt zuschneiden – auf das Ende seiner Amtszeit, das vielleicht kein Ende sein wird. Das Volk soll über die neue Verfassung abstimmen, die er dann allerdings wohl schon abgesegnet haben wird. Erneut soll sich Volkes Wille in ihm manifestieren – und er in Volkes Wille.

Von außen betrachtet gleicht der Aufstieg eines KGB-Offiziers zum Präsidenten der Russischen Föderation innerhalb von nur zehn Jahren einem Wunder. Aber in diesen russischen 1990er-Jahren geschahen viele Wunder. „Er war“, so beschrieb es Boris Jelzin, „auf militärische Art standhaft.“

Und dieser so bescheiden daherkommende Mann hat, so kann man es sagen, durchaus Ungeheures erreicht, die großen Ziele seiner „Millenniumsbotschaft“ von Ende 1999. Dem erklärten „gosudarwstwennik“ gelang es, über die „Vertikale der Macht“ die faktische Allmacht des Staates – also des Präsidenten und der von ihm Bevollmächtigten – wiederherzustellen. Er machte das Land zum Großlabor eines modernen autoritären Systems und lässt nun an einem Überwachungsstaat nach durchaus chinesischem Vorbild bauen.

Die zunehmende Kontrolle des Internet gehört ebenso dazu wie selektive Repression und die dem Präsidenten unterstellte Nationalgarde von rund 300 000 Mann. Zugleich aber lässt das System durchaus Freiräume: Nischen für kleine, unabhängige Zeitungen und NGOs, manchmal auch für Kritik und kontrollierten Straßenprotest. Wer will, kann das Land verlassen.

Allerdings reicht die Fantasie vieler Russen nicht mehr aus, um auf eine rechtsstaatliche, gar demokratische Ordnung in ihrem Land zu hoffen. Desillusioniert bezeichnen sie sich als „diwannye kritiki“, Sofakritiker. Freiheit? Ist ohnehin nur Attrappe. Allgegenwärtig aber bleibt „wlast“, die Macht. So war es schon immer in Russland, heißt es.

Putin wies Jelzins Oligarchen in ihre Schranken und schuf Platz für eine neue Machtelite, diese Koalition aus gut ausgebildeten Technokraten im Staatsdienst, smarten Großunternehmern und Unternehmergeheimdienstlern. Das System der „Putin-Oligarchen“ erinnert Kritiker an einen parasitär-mafiösen Staat.

Jetzt übernehmen deren Söhne die Geschäfte. Sie kontrollieren den Zugang zu den entscheidenden Ressourcen des Landes, zu Öl und Gas und Ostsee-Pipelines, zum militärisch-industriellen Komplex und Staatsbanken; die eigenen Konten sind vorzugsweise off-shore – und für alle Fälle hat man einen westlichen Pass. Konflikte und Interessenkollisionen moderiert und nutzt – der Präsident.

Unbestritten seine wohl größte Leistung: Nach dem demütigenden Absturz der 1990er-Jahre gab Putin den Menschen Stabilität und Hoffnung auf Zukunft. Die Wirtschaft wuchs, Gehälter und Renten wurden ausgezahlt, Steuern bezahlt. In diesem goldenen Jahrzehnt verfünffachte sich der Ölpreis. Milliarden unerwartete Dollar flossen an Staat und Elite, ein Teil davon wurde über das Land verteilt. Vereint im unpolitischen „Putin-Konsens“ erlebten die Menschen bescheidenen Wohlstand; es waren Jahre der Verheißung.

Seine wohl größte Chance in seinem ersten Jahrzehnt: Dem Land endlich den Weg zu gesellschaftlicher Modernisierung und Demokratisierung zu ebnen, diese mühsame Generationenaufgabe anzunehmen. Denn auch im Westen hoffte man auf Putin und eine strategische „Modernisierungspartnerschaft“, vor allem in Deutschland. Es war eine historische Chance. Er nutzte sie nicht. Denn sein Weg war ein anderer.

Nach russischer Lesart schmetterten die Politiker des Westens seit Ende des Kalten Kriegs alle Versuche ab, einen für Russland legitimen Platz in Europa zu finden. Ganz falsch ist diese Sicht nicht.

„Unser größter Fehler war, euch zu sehr zu vertrauen“, so formuliert es der russische Präsident. „Und euer Fehler war, dieses Vertrauen als Schwäche auszulegen und zu missbrauchen.“ Eine Integration in die europäischen Ordnungsstrukturen des KSZE-Abkommens von Helsinki 1975 oder der Demokratie-Charta von Paris 1990 jedenfalls waren bald keine Option mehr.

Vielmehr definierten Putins Polittechnologen Russland als „souveräne“ Großmacht und Zivilisation aus eigener, rechtgläubiger Geschichte und Kraft. Dem vermeintlich „liberalen“ Westen mit seinen zunehmend „dekadenten“ Werten könne sich Russland nicht anschließen. Und sich schon gar nicht unterwerfen.

„Russland verlässt den Westen“, schrieb der heutige Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums Dmitri Trenin bereits 2006. Von dieser sich anbahnenden Abwendung, dieser von zunehmendem Misstrauen und Verschwörungstheorien geprägten Entfremdung nahm damals kaum jemand Notiz.

Putins Klartext auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 läutete die geopolitische Neupositionierung Russlands gegen die Hegemonialmacht USA ein. Der revisionistische Anspruch auf eine „Zone privilegierter Interessen“ im postsowjetischen Raum manifestierte sich rasch, 2008 in Georgien und wenige Jahre später mit der Annexion der Krim sowie dem Versuch, im Osten der Ukraine eine Art Moskauer Protektorat zu errichten; im Donbass, wo noch immer ein Krieg schwelt, in dem bislang 13 000 Menschen starben und mehr als zwei Millionen zu Flüchtlingen wurden.

Die „Rückkehr“ der Krim, einst „Perle des Imperiums“, in den Bestand der Russischen Föderation ist für Moskau nicht verhandelbar, das weiß man auch in Berlin, Paris, Washington – und Kiew. Russlands militärische Dominanz über das Schwarze Meer scheint gesichert. Dafür nimmt man Sanktionen und politische Konfrontation in Kauf und setzt auf die wachsende Ukraine-Müdigkeit der EU und der USA, um in Kiew erneut Einfluss zu etablieren.

Aber vielleicht sind die Menschen in der Ukraine längst weiter. Sie haben sich auf den langen Weg Richtung Westen gemacht. Putins Russland jedenfalls ist kein Modell für sie.

Zuzugestehen ist: Zumindest die zweite Runde der Nato-Osterweiterung gehört zu den strategischen Fehleinschätzungen westlicher Politik gegenüber Russland. In dieser Frage erwies sich der Präsident als durchaus einig mit der Mehrheit seines Lands – als „Russlands Putin“. Das vermeintliche Vorrücken der Nato Richtung Moskau rührte an die Grundfesten einer über Jahrzehnte geschundenen Gesellschaft, die Identität vor allem in heldenhafter Verteidigung gegen Feinde aus dem Westen finden musste, am Ende im unter unvorstellbaren Opfern errungenen Sieg über den deutschen Nationalsozialismus.

Umgekehrt aber geriet die Fixierung auf die vermeintliche Bedrohung durch die Nato zu einem „fundamentalen Fehler“ russischer Außenpolitik, so Trenin: „Russland wird wieder als militärischer Gegner des Westens wahrgenommen. Dies ist eine strategische Niederlage für Russland.“

Zu den außenpolitischen Niederlagen des Kremls gehört in gewisser Weise auch Donald Trump. Man setzte wohl auf dessen eitle Skrupellosigkeit und Ignoranz, als die Hacker des Militärgeheimdienstes GRU und die Trollfabrik des Unternehmers Jewgenij Prigoschin während des US-Wahlkampfs 2016 nicht nur gegen Hillary Clinton manipulierten, sondern am Ende für Trump. Nach dessen Wahl jedenfalls knallten in Moskau die Champagner-Korken. Auf Trump gesetzt zu haben hat sich jedoch bisher nicht so ausgezahlt wie erhofft. Der US-Kongress ist gegen Russland einig wie seit Jahren nicht. Das Verhältnis ist so konfrontativ wie einst im Kalten Krieg.

Dabei liegen „America First“ und „Russlands Souveränität“ gar nicht so weit auseinander – jenem Verständnis einer multipolaren, post-westlichen Welt, in der erneut die Prinzipien klassischer Großmachtpolitik gelten. Multilateralismus? Auf Basis der Menschenrechte miteinander verhandelte Regeln, die für alle gelten? Das ist letztlich etwas für Schwächlinge, für Europäer etwa.

Mit gnadenlosem Opportunismus stößt der geopolitische Nullsummenspieler Putin überall dort vor, wo sich die USA zurückziehen, projiziert politische und militärische Macht in entstehende Leerräume, im Nahen Osten und zunehmend auch im rohstoffreichen Afrika. Zimmert Koalitionen mit der Türkei, mit Israel ebenso wie mit Saudi-Arabien. Die erfahrenen russischen Diplomaten interpretieren das Völkerrecht virtuos je nach Interessenlage. Es ist dabei kein Zufall, dass die Unterstützung mit Hard- und Software, mit Waffen und Söldnern, mit Korruption und Desinformation meist Diktatoren und autoritären Herrschern gilt. Und natürlich zählt Gewalt als legitimes Mittel der Politik – so wie in Syrien, das russische Kampfjets (und iranische Verbände) gerade in einen Friedhof-Frieden unter Assad bomben.

Und weil Geografie in gewisser Weise Schicksal ist, orientiert sich Russland nach Osten, Richtung China und

Indo-Pazifik. Mit dem russischen

„pivot to Asia“ will sich Moskau als strategischer Partner Chinas etablieren, nicht nur als Rohstofflieferant: Das weite russische Land als unverzichtbarer Transportkorridor der neuen Seidenstraßen, an deren westlichem Ende die europäischen Märkte liegen. Dazu käme die Aufgabe einer militärischen Absicherung der postsowjetischen Staaten Mittelasiens. Aus der Annäherung zwischen Russland und China, heißt es, wachse eine neue Sicherheitsarchitektur für einen neuen Superkontinent: Eurasien.

Im 21. Jahr seiner Herrschaft wächst der mittlerweile ewig junge russische Präsident zum Machtpolitiker von Weltrang, Russland zur Ordnungsmacht einer multipolaren Oligarchie. Als Mitglied dieser neuen Internationale verhandelt Russland die Interessen einer kleinen Machtelite, schmiedet ebenso flexible wie fragile Bündnisse, in denen letztlich das Recht der Macht gilt und nicht die Macht des Rechts. So wächst eine neue Weltordnung, die der Skrupellosen.

Ernster könnte die Lage für Europa kaum sein.

Katja Gloger
ist Autorin des Magazins Stern und langjährige Korrespondentin in Moskau. 2018 ist ihr Buch „Fremde Freunde“ erschienen, das über die tausendjährige, schicksalhafte Beziehung zwischen Deutschen und Russen erzählt.