Donnerstag, 28. März, 2024

Nahost: Trump überlässt Russland die Rolle der regionalen Ordnungsmacht

Von Markus Bickel

Ein größeres Geschenk zu seinem 67. Geburtstag hätte der amerikanische Präsident Wladimir Putin gar nicht machen können. „Es ist für uns an der Zeit, aus diesen lächerlichen endlosen Kriegen auszusteigen und unsere Soldaten nach Hause zu bringen“, schrieb Donald Trump am 7. Oktober auf Twitter – und kündigte den Rückzug der rund 1000 in Syrien verbliebenen amerikanischen Soldaten an. Jetzt müssten die „Türkei, Europa, Syrien, Iran, Irak, Russland und die Kurden selbst überlegen, wie sie weiter vorgehen“.

Das haben sie getan, allen voran Putin und der syrische Diktator Baschar al-Assad: Mitte Oktober, nur eine Woche nach der Abzugsankündigung Trumps, rückten Streitkräfte der beiden Verbündeten in Manbidsch ein – nur wenige Stunden nachdem Dutzende US-Soldaten ihre Posten in der Grenzstadt im Nordwesten Syriens geräumt hatten.

Ein historischer Moment, der nach acht Jahren Krieg eine völlige Neuordnung im Norden Syriens bedeutet. Denn mit dem Ende der zwar kleinen, aber effektiven US-Präsenz auf einem Drittel des syrischen Territoriums verlieren die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) ihre wichtigste ausländische Schutzmacht. In dieses Vakuum stößt nun Russland vor.

Der syrisch-russische Vorstoß freilich war nicht nur eine Reaktion auf Trumps Entscheidung zum Rückzug aus Syrien. Er folgte der Invasion türkischer Truppen, die auf Befehl Präsident Recep Tayyips Erdoğans am 9. Oktober in der „Operation Friedensquelle“ in den 480 Kilometer langen Korridor zwischen Euphrat und irakischer Grenze einmarschierten – zum dritten Mal in drei Jahren, und keine 48 Stunden nach dem amerikanischen Beschluss, Syrien völlig überstürzt und ohne Not zu verlassen.

Die russische Diplomatie nutzte das knappe Zeitfenster, um sich als Mittler zwischen der kurdischen YPG-Führung und dem Regime in Damaskus zu positionieren. Auch Erdoğan gegenüber machte der Kreml klar, dass Moskau eine dauerhafte Präsenz türkischer Truppen auf syrischem Boden als „inakzeptabel“ ablehne. Beim Besuch des türkischen Machthabers in Moskau am 22. Oktober besiegelte Putin die Rolle Russlands als neue Ordnungsmacht.

 

Die neue Rolle Russlands als vielleicht wichtigster Ordnungsmacht in Nahost unterstrich Putin auf einer Reise nach Abu Dhabi und Riad: Zum ersten Mal seit zwölf Jahren besuchte er das saudische Königreich, das nach Beginn des Aufstands gegen Assad 2011 noch syrische Oppositionsmilizen unterstützt hatte, inzwischen aber auf die russische Linie eingeschwenkt ist – und sich mit dem Sieg des Diktators abgefunden hat.

Im Herbst 2015 bereits hatte Putin hoch gepokert, als er sich zur Intervention in den Syrien-Krieg entschied. Assads Einheiten hatten damals große Gebiete an islamistische Oppositionsmilizen verloren; der mehrheitlich kurdisch besiedelte Norden des Landes stand schon seit 2012 unter Kontrolle der YPG, dem syrischen Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Eine Wiedererlangung der Souveränität über das ganze syrische Territorium durch Regimeeinheiten erschien illusorisch, der Aufbau einer russischen Luftwaffenbasis nahe des Marinestützpunkts Latakia sollte zunächst nur weitere Verluste Assads verhindern.

Dass die Rückkehr der syrischen Armee auf vielleicht für immer verloren geglaubte Gebiete vier Jahre später Realität ist, erhöht Putins Gewicht in Damaskus weiter. Selbst wenn der politische und militärische Bedeutungszuwachs nicht allein dem Verhandlungsgeschick des Kremls, sondern strategischer Fehlentscheidungen der USA oder anderer Mächte entspringt: „Man muss sagen, dass die wichtigsten russischen Erfolge in Syrien nicht das Resultat bewusster Bemühungen durch Moskau sind“, sagt Aleksandr Shumilin, Nahostexperte an der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Sie sind durch seltsames Verhalten westlicher Staaten und der Türkei schlicht und ergreifend auf Putin und Moskau niedergestürzt wie Manna vom Himmel.“

So gesehen reiht sich die Entscheidung Trumps, die syrischen Kurdenmilizen im Kampf gegen die türkische Armee allein zu lassen, ein in den Beschluss seines Vorgängers Barack Obama. Der hatte im August 2013 trotz zuvor gezogener „roter Linie“ im Fall eines Giftgaseinsatzes beschlossen, nicht mit Luftschlägen gegen Stellungen des Regimes vorzugehen. Der schleichende Rückzug aus Nahost, den der Demokrat im Weißen Haus mit seiner zaudernden Haltung im Syrien-Konflikt begann, wird durch den Paukenschlag Trumps vollendet, die YPG als langjährigen Verbündeten gegen die Terrororganisation Islamischer Staat im Stich zu lassen. Wichtigster geopolitischer Profiteur dieser Entwicklung: Russland.

Eine Entwicklung, die in Washington alles andere als unumstritten ist, wie die heftigen Proteste von Kongressabgeordneten und Senatoren der Republikaner gegen die Entscheidung Trumps zeigen: Bereits vor einem Jahr, im Dezember 2018, waren nach einer ersten Ankündigung des Präsidenten, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen, Verteidigungsminister Jim Mattis und der Sonderbeauftragte für den Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) Brett McGurk zurückgetreten. Auch John Bolton, der im September von Trump als Nationaler Sicherheitsberater entlassen wurde, hatte stets auf eine Fortdauer der US-Präsenz im Dreiländereck zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak gedrängt.

Diese war durchaus im Interesse Russlands. Der Einsatz von zunächst 2000, zuletzt nur noch 1000 amerikanischen Spezialkräften wurde auch deshalb von Moskau goutiert, weil beide Großmächte im Kampf gegen den IS dieselben Ziele verfolgten – gegen Erdoğans Drängen auf „Neutralisierung der Bedrohung durch PKK-YPG-Terroristen“. Doch da die Schlacht gegen das „IS-Kalifat“ aus Trumps Sicht beendet ist, entzog er den Kurden Anfang Oktober überstürzt seine Unterstützung – und gab der Türkei damit de facto grünes Licht für die dritte Militärintervention in drei Jahren.

Bereits 2016 hatte Erdoğan in der „Operation Euphrat-Schild“ Gebiete westlich des Euphrats eingenommen, Anfang 2018 dann in der „Operation Olivenzweig“ unter anderem die Gegend um die kurdisch dominierte Stadt Afrin. Viele der fast 200 000 vor den Kämpfen geflohenen Bewohner des Gebiets konnten bis heute nicht in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren, weil mit Ankara verbündete syrisch-arabische Milizen seitdem die Kontrolle ausüben. Das dürfte auch für die weiter östlich gelegenen Gebiete gelten, die Ziel der „Operation Friedensquelle“ sind: Allein bis Mitte Oktober waren 150 000 Menschen vor der neuen türkischen Offensive geflohen, vor allem in die nahe der irakischen Grenze gelegenen Stadt Hasakah.

Erdoğans Ziel ist die Errichtung einer Sicherheitszone in dem 480 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Korridor, in dem unter anderem 2 Millionen Flüchtlinge aus der Türkei angesiedelt werden sollen; die Kosten für den gigantischen Bevölkerungstransfer veranschlagt Ankara auf 26,5 Milliarden US-Dollar.

Doch der Aufbau eines türkischen Protektorats auf syrischem Boden dürfte kaum gelingen, nicht zuletzt wegen russischen Widerstands. In einem Gespräch mit Erdoğan Mitte Oktober machte Putin klar, dass die Vermeidung von Zusammenstößen zwischen türkischer und syrischer Armee oberstes Ziel der russischen Syrien-Politik bleibe – die bei einer dauerhaften Besatzung durch Einheiten Ankaras jedoch unvermeidlich wären.

Und auf die Finanzierung der mit massiven „ethnischen Säuberungen“ verbundenen Neuansiedlung syrischer Geflüchteter dürften sich die europäischen Staaten nicht einlassen. Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, verweist gegenüber dem *Petersburger Dialog* zudem darauf, dass Russland weiterhin alles andere als eine konstruktive Rolle bei den politischen Gesprächen zur Beendigung des Syrien-Kriegs spiele. Nach wie vor bombardierten russische Kampfflieger Stellungen von Oppositionsmilizen in der nordwestsyrischen Provinz Idlib – immer wieder seien Krankenhäuser das Ziel. „Ohne Aussöhnungsprozess wird es keinen Frieden geben, und dem steht Russland mit seiner Politik im Weg“, so Nouripour.

Und auch Stefan Liebich, außenpolitischer Sprecher der Linken-Bundestagsfraktion, äußert Zweifel, ob Russland seine neue Mittlerrolle in Nahost zu einer Beilegung des 2011 mit Protesten gegen Assads begonnen Konflikts nutzen werde. Wenn der Kreml es ernst meinte, müsste Moskau den Verkauf von S-400-Flugabwehrsystemen an Ankara stoppen – so wie einige europäische Staaten, die ihre Rüstungsexporte an die Türkei auf Eis legten. Schließlich wäre es „absurd, denjenigen aufzurüsten, den man gerade militärisch stoppen will“.

Inwieweit der Vorstoß der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) Aussicht auf Erfolg hat, im Norden Syriens eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten, ist unklar. Dort sollten künftig europäische Truppen den Kampf gegen den IS fortführen, der zuletzt „zum Erliegen gekommen“ sei. Dass die YPG als wichtigste Bodentruppe der Antiterrorallianz gerade nicht einmal mehr in der Lage ist, sich gegen den deutschen Nato-Verbündeten Türkei zu schützen, berücksichtigt dieser Vorschlag nicht.

Markus Bickel
war von 2012 bis 2015 Nahost-Korrespondent der *Frankfurter Allgemeinen Zeitung* und ist seit 2017 Chefredakteur des deutschsprachigen *Amnesty Journals*, der Zeitschrift für Menschenrechte.

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