Freitag, 19. April, 2024

Hohe Selbstmordrate in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion

Von Aleksei Markow

Leonid Grigorjew, Professor an der Higher School of Economics in Moskau, und die Doktorandin Ljubow Popowez haben sich einer interessanten, wenngleich traurigen Aufgabe gestellt: Sie haben Morde und Selbstmorde in 157 Ländern der Welt untersucht und über ihre Ergebnisse eine „Sociology of individual tragedies“ veröffentlicht. Die Ergebnisse für Russland und Deutschland sind überaus erhellend.

Selbsttötung definieren die Autoren als – persönliches oder berufliches – „Scheitern im Leben“, Tötungsdelikte dagegen als extreme Erscheinungsformen einer tiefen Spaltung in der Gesellschaft. In den 17 „Zielen für nachhaltige Entwicklung“ der UN finden Tötungsdelikte keine Erwähnung, Selbsttötungen werden dagegen als Indikator für die „mentale Gesundheit einer Nation“ angesehen.

Grigorjew und Popowez sind der Auffassung, der sozialen Komponente käme in beiden Fällen eine große Bedeutung zu, aber auch kulturelle Codes wie etwa die Tradition spielten eine wichtige Rolle. In den Ländern Nordeuropas führten verbreitete Einsamkeit und Schwermut zu hohen Suizidraten.

„Die Zahl der Selbsttötungen steigt mit dem Pro-Kopf-Einkommen“, schreiben die Autoren. „Der Grund dafür ist jedoch nicht das steigende Einkommen, sondern die parallel dazu zunehmenden Gründe für Verzweiflung und persönliches Scheitern. In den postsowjetischen Ländern steht der sprunghafte Anstieg dieser traurigen Zahlen im Zusammenhang mit der Übergangskrise“, meinen sie. „Ein Kennzeichen unseres Landes ist das historisch gleichbleibende Überwiegen der Zahl der Suizide über die der Tötungsdelikte, wie in fast allen Regionen der Welt. In Brasilien und der Republik Südafrika ist es umgekehrt.“

Die Autoren der in der Oktoberausgabe der Zeitung Russian Journal of Economics veröffentlichten Studie untersuchten den Zusammenhang von Gewalt (Tötungsdelikte) innerhalb einer Gesellschaft und individueller Aggression, desolaten sozialen Strukturen und Armut, aber auch den Zusammenhang von Suizidrate, Depression und Einkommensniveau. Viele Forscher stellten aus historischer Sicht fest, dass die Zahl der Selbsttötungen nicht abhängig vom materiellen Wohlstand ist.

Generell hängt die Zahl der Tötungsdelikte mit Alkoholabhängigkeit, niedrigem Einkommen, dem Grad von Urbanisierung und Industrialisierung sowie der Heterogenität der Bevölkerung zusammen. Das Glücksniveau hingegen steht damit in keinem direkten Verhältnis zur Zahl der Tötungsdelikte oder der Selbsttötungen, korreliert jedoch positiv mit dem Niveau des Einkommens.

Die jüngsten Daten der Studie stammen aus dem Jahr 2016, für die meisten Länder sind die Zahlen nur bis zu diesem Zeitraum zugänglich; dadurch ist die Analyse jedoch keinesfalls überholt, da das Verhältnis der Tötungsdelikte und Suizide in den jeweiligen Ländern über die Zeit stabil war.

Die Autoren werteten die Daten von 157 Ländern mit mehr als zwei Millionen Einwohnern aus. Länder, in denen der Islam offizielle Religion ist, wurden in einer separaten Gruppe erfasst, weil deren Zahlen das globale Bild verfälscht hätten. Die Mord- und Selbstmordrate ist in diesen Ländern weniger als halb so hoch wie in den übrigen Staaten, sie liegt bei 3,2 respektive 4,2 Fällen pro 100 000 Einwohner, obwohl Angststörungen und Depressionen in islamischen Ländern stärker verbreitet sind als in nicht-islamischen. Einzige Ausnahme ist Afghanistan mit 18,8 Getöteten auf 100 000 Einwohner.

Die meisten Tötungsdelikte verzeichnen Länder, die sich in einer Übergangsphase befinden. Die Selbstmordrate wächst proportional zum steigenden Wohlstand und ist in den weiter entwickelten Staaten am höchsten. Die Ursachen dafür müsse in höheren Ansprüchen, enttäuschten Hoffnungen und der heftigen Reaktion auf persönliches Scheitern gesucht werden.

Weder die Zahlen der Angststörungen noch der alkohol- oder drogeninduzierten Psychosen oder Depressionen sind ein zuverlässiger Indikator für den generellen Zustand einer Gesellschaft. Gerade in den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Ländern ist der Alkohol- oder Drogenmissbrauch weiter verbreitet als in weniger entwickelten.

Der Bevölkerungsverlust für Russland in diesen beiden Kategorien ist insgesamt vergleichbar mit dem in Brasilien und der Republik Südafrika. Allerdings liegt dort die Selbstmordrate bei einem Viertel, in Russland dagegen bei fast zwei Dritteln. Gemeinsam ist diesen Ländern ein hohes Maß an sozialer Ungleichheit. Es ist gerade die soziale Ungleichheit, nicht die Armut, die diese Art von Gewalt bedingt, umso mehr je höher die Zahl der Arbeitslosen.

Lateinamerika ist die einzige Region der Welt, in der mehr Morde als Selbstmorde gezählt werden. Dennoch sind die dortigen Einwohner glücklich: Panama etwa belegt im Weltglücksindex Platz 23, Russland Platz 50. Das Niveau der Ungleichheit spiegelt noch eine weitere Gesetzmäßigkeit wider: In Ländern mit einer relativ hohen sozialen Ungleichheit klaffen die Zahlen bei den Selbsttötungen zwischen Frauen und Männern stark auseinander, mit einem hohen Wert bei Letzteren.

Einige interessante Beobachtungen stammen aus den sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika): So sind, Umfragen zufolge, die Einwohner Brasiliens im internationalen Vergleich gesehen glücklich, trotz niedriger Einkommen und sozialer Instabilität. Ein wichtiger Faktor für das Glücksempfinden ist nicht so sehr das absolute, sondern eher das relative Einkommen, also die Höhe des Einkommens im Vergleich mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft. So sank in China das indizierte Glücksempfinden laut Umfragen trotz eines hohen Wirtschaftswachstums. Der stärkste Rückgang der Mord- und Selbstmordrate zwischen 2000 und 2017 war in Russland und Südafrika zu verzeichnen.

Interessanterweise stieg in den 1990er-Jahren die Zahl der Tötungs- und Selbsttötungsdelikte in fast allen Staaten und sank zu Beginn der 2000er-Jahre wieder.

Die Analyse ergab, dass alkohol- und drogenindizierte Psychosen von den ausgewählten Variablen am stärksten mit der Zahl der Selbsttötungen korrelieren, woraus sich die so traurige wie vorhersehbare Folgerung ergibt, dass die Selbstmordrate im postsozialistischen Raum am höchsten war. Tatsächlich gab es in 22 Ländern in den Jahren 1990-1994 (teilweise später) einen sprunghaften Anstieg auf beiden Feldern. Danach fielen die Zahlen langsam auf das heutige Niveau, allerdings mit den Ausnahmen Aserbaidschan, Armenien und Georgien, in denen die Rate zwar nicht am höchsten liegt, aber in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich stieg. Die Daten belegen dies: 2016 gab es in Russland 31 Selbsttötungen pro 100 000 Einwohner, in Belarus 26,2, in Kasachstan 22,5, in der Ukraine 22,4, in Litauen 32. Unter den 20 Ländern mit den höchsten Zahlen befinden sich auch Estland, Lettland, Ungarn, Slowenien, von den westeuropäischen Ländern Belgien, Frankreich und die Schweiz, sowie aus dem asiatischen Raum Südkorea und Japan.

In den Ländern, die in den vergangenen Jahren der Europäischen Union beigetreten sind, ist die Zahl der Tötungsdelikte niedrig, die der Selbsttötungen aber relativ hoch, wenngleich auch kontinuierlich sinkend.

In den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland wurde die höchste Zahl der Selbsttötungen in den Jahren 1994 und 1995 erreicht, sie lag bei 40 Fällen pro 100 000 Einwohner und war damit die höchste von allen postsowjetischen Ländern. Die Zahl der Tötungsdelikte war mit mehr als 20 Fällen pro 100 000 Einwohner in diesen Ländern ebenfalls recht hoch, mit Ausnahme von Litauen.

Russland verzeichnete 2016 eine der höchsten Suizid- und Tötungsraten weltweit: Platz 3 bei Suiziden und Platz 16 bei Tötungsdelikten. Unter den 20 Ländern mit der höchsten Tötungsrate verfügt nur Russland neben Brasilien und Mexiko über eine hinlänglich entwickelte Wirtschaft. Der Spitzenwert wurde 1994 erreicht (78 bis 88 Fälle pro 100 000 Einwohner, je nach Quelle), was die Intensität des sozialen Stresses in der Gesellschaft anzeigt.

Auch andere Länder, die eine Phase der sozial-ökonomischen Transformation durchliefen, registrierten 1994 einen Spitzenwert und einen zweiten im Jahr 2002. Der Grund dafür ist die Schwächung des Staats und die Verarmung eines großen Teils der jeweiligen Bevölkerung in den 1990er-Jahren, verbunden mit einer rapiden und zweifellos spürbaren sozialen Spaltung. Bis heute ist die Zahl der Todesfälle hoch (insbesondere bei Männern), die nicht auf natürliche Gründe wie Krankheit oder Alter zurückgehen. Insgesamt sind jedoch beide Werte deutlich gesunken.

In Deutschland und den benachbarten Ländern findet das hohe Einkommensniveau und die gute Arbeit der Rechtsschutzorgane Ausdruck in einer niedrigen Zahl von Tötungsdelikten. Dagegen bedingen Einsamkeit, das Scheitern persönlicher Karrieren und Hoffnungen ein sehr hohes Niveau der Selbsttötungen.

Die hohen Zahlen in Russland zeigen eine ausgeprägt regionale Struktur: „europäische Werte“ in Moskau und Region und in St. Petersburg, aber immer höhere Zahlen, je weiter man sich nach Osten bewegt, wo sich viele Regionen noch nicht vollständig vom Schock der 1990er-Jahre erholt haben.

Länder, die einem dramatischen Wandel der sozialen Institutionen ausgesetzt sind, sehen sich mit einem sprunghaften Anstieg der beiden Indikatoren für sozialen Stress konfrontiert, und ihr Rückgang könnte auf eine Stabilisierung der Gesellschaft hindeuten. Dort liegt eine der Möglichkeiten, die sozialen Kosten von Revolutionen aller Art zu analysieren, ein Thema, das schmerzhaft ist und viel Fingerspitzengefühl erfordert.

 

Aleksei Markow
ist Journalist und Mitarbeiter der Zeitung Kommersant.