Freitag, 29. März, 2024

Fossile Energieträger haben Wohlstand, Technik und Politik getrieben, aber auch neue Abhängigkeiten und Möglichkeiten der Kriegsführung und Zerstörung geschaffen. Jetzt kommt es darauf an, Rohstoffökonomien zu High-Tech-Standorten zu transformieren.

Von Benjamin Steininger

Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1944, veröffentlichte der russische Biogeochemiker Wladimir Iwanowitsch Wernadski (1863-1945) eine letzte Schrift: „Einige Worte über die Noosphäre“. Wissenschaft und Technik bildeten, so Wernadski, innerhalb der Biosphäre eine neue, geohistorisch wirksame Schicht, die Noosphäre. „Wissen ist keine Energieform“, aber der Mensch sei, und der Weltkrieg zeige dies auf drastische Weise, zur „größten geologischen Kraft“ geworden.

Wernadskis Diagnose wird heute breit diskutiert. Klimakrise und Biodiversität sind nur zwei Stichworte. Geologen und Kulturtheoretiker sprechen von der „Technosphäre“ und vom „Anthropozän“, einem auf das Holozän folgenden, vom Menschen gemachten, neuen Erdzeitalter. Und es ist klar, dass die industrielle Nutzung geohistorischer Energie in Form von Kohle, Öl und Gas den Menschen zur geohistorischen Kraft gemacht hat.

Biogeochemisch zu denken, ist also nicht mehr das Privileg von Gelehrten wie Wernadski. CO2 ist mehr als ein Molekül der chemischen Wissenschaft. Es ist ein Zeichen dafür, dass auch Politik chemisch denken muss. Chemische Prozesse in Raffinerien und Motoren haben den Geschichtsprozess der Moderne bestimmt. In den biogeochemischen Prozessen auf dem Planeten werden sie noch lange nachhallen. Politik, Wissenschaft, Industrie und Gesellschaften sind global herausgefordert, den Kurs der Geschichte zu verändern.

Diese Situation ist historisch neu. Weder bei der Zähmung des Feuers, noch bei der europäischen Ausbeutung Amerikas, noch bei den Anfängen der Industrialisierung, noch beim Manhattan-Projekt zur Entwicklung der Atombombe wurde über planetary boundaries nachgedacht. Was machbar war, wurde gemacht. Jetzt heißt es umdenken, nicht weil die Ressourcen versiegen, sondern weil die Konsequenzen der ungebremsten Nutzung von Kohle und Öl langfristig für alle fatal sind.

Es gilt zu handeln und Entwicklungsziele mit Klimazielen zu verbinden. Es gilt aber auch zu verstehen, wie wir wurden, was wir sind. Fossile Energieträger haben seit ihrer Nutzung ab 1800 die Standards von Wohlstand, Technik und Politik definiert, im Positiven wie im Negativen. Dass Sklaven- und Kinderarbeit geächtet sind, ist nicht nur das Verdienst von Ethik und Grundrechten, sondern auch von Motoren und Kraftwerken. Gleichzeitig hat fossile Energie neue Abhängigkeiten und neue Möglichkeiten der Kriegsführung und Zerstörung geschaffen.

Die historische Brisanz der fossilen Energieträger, ihre Bedeutung für Begriffe wie Wachstum und individuelle Freiheit und damit auch für die Zeit nach der fossilen Energie wird erst langsam erkennbar. Ausgehend von Nordamerika, und dort von Zentren der Erdöltechnik, etwa in Houston, Calgary oder Edmonton, haben sich kritische, und mehr und mehr internationale Energy Humanities etabliert, um das Zusammenspiel von Energie, Gesellschaft und Geschichte zu erforschen. Auch zu „Energy Humanities East“ gibt es erste Anfänge.

Wie in einem System kommunizierender Röhren – und Pipelines sind so ein System – sind tatsächlich alle Gesellschaften auf ihre Weise betroffen, Rohstoffökonomien wie Kanada, die Golfstaaten oder Russland, aber auch Industrie- und Raffinerieökonomien in Europa und Asien, Produzenten und Konsumenten. Und man wird Wissen aus allen Strängen und Ecken dieses Systems benötigen, um das nächste, dann nachhaltige System zu entwickeln.

Fossile Energie wirkt als Klammer, die unterschiedlichste politische ökonomische und gesellschaftliche Systeme technisch verbindet. Kapitalistische und kommunistische Gesellschaften, demokratische und diktatorische Systeme, staatstragende Hochkultur und oppositionelle Gegenkultur, sie alle kann man der Petromoderne zurechnen. Nur wenn man sie im Vergleich betrachtet und die schärften Oppositionen zusammendenkt, wird die Epoche verständlich. Die counter culture – oder Gegenkultur – der USA sind ohne die Freiheitsversprechen der Automobilität ebenso wenig zu verstehen wie Rednecks, die in Pickups mit Handfeuerwaffen patrouillieren.

Aber nicht nur US-amerikanische urban sprawls, die Ausdehnung der Städte, und die Petrochemie in allen Lebensbereichen, das ist kurz gefasst die Petromoderne. Auch sozialdemokratische Musterländer wie Norwegen, das die Gewinne aus dem verstaatlichten Öl- und Gasgeschäft zum Wohl der Bevölkerung anlegen, gehören dazu, wie Despotien vom Persischen Golf, in denen Öl- und Gaseinnahmen jede gesellschaftliche Entwicklung lähmen, weil sie nur die herrschenden, ungerechten Verhältnisse zementieren.

Historisch können alle Kriegsparteien des Zweiten Weltkriegs als petromodern beschrieben werden. NS-Deutschland gelang es, ohne eigene Öl-Ressourcen, aber mit großem technologischem Aufwand, flüssige Kohlenwasserstoffe für Schiffe, Panzer, Flugzeuge aus Kohle zu gewinnen. Militärisch haben sich diese Anstrengungen der Synthese als ungenügend erwiesen. Mit den USA und der Sowjetunion, und damit den beiden zeitgenössisch produktivsten Erdölländern als Gegner, blieb Baku für die NSKriegsmaschine unerreicht.

Der T34 mit seinem Dieselmotor war aber auch technisch den deutschen Panzern überlegen, ebenso wie die 100 Oktan- Benzine der amerikanischen Luftwaffe den Kohlebenzinen der Deutschen. Und auch das Vereinigte Königreich mit seiner schon vor dem Ersten Weltkrieg auf Erdöl umgestellten, von weltweiten Quellen gespeisten Flotte war ein Musterbeispiel für ein petromodernes Imperium.

Wovon nach dem globalen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg Abschied zu nehmen ist, welche post-fossilen Entwicklungspfade bereitstehen, unterscheidet sich in den einzelnen Gesellschaften und Staaten. So wäre es für die Wirtschaft und das Selbstverständnis Deutschlands als Industriestandort fatal, die planetarisch veränderten Rahmenbedingungen zu ignorieren und den Erfolg des Verbrennungsmotors in der Vergangenheit auf die Zukunft zu projizieren.

Besondere Verwerfungen sind in den USA zu beobachten. Rational ist klar, dass der verschwenderische, ressourcen-aufwändige Lebensstil der Hochmoderne keine Zukunft hat. Aber gerade angesichts dieser Diagnose häufen sich besonders verschwenderische Praktiken.

Nie waren die Autos größer, nie wurde mehr geflogen, nie wurde mehr Kunststoff erzeugt. Als psychologische Krise, als Trennungsschmerz von einem geliebten historischen Zustand, als „Petromelancholia“ hat die Literaturwissenschaftlerin Stephanie LeMenager diese Grundstimmung beschrieben.

Ob in Rohstoff-, Raffinerie- oder Konsumökonomien, überall ist es notwendig, Abhängigkeiten von fossilen Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Es geht dabei um nationale Selbstbilder und um deren Weiterentwicklung. Nur wenige Länder können wie Norwegen von einem der wichtigsten Öl- und Gas-Länder Europas zur Wasserkraftnation Nummer eins, zur Batterie Europas umschwenken.

Nationale Erkundungen der Energiegeschichte sind wertvoll. Die Selbstvergewisserung über die Petromoderne darf aber dort nicht verharren. Die Verknüpfung von Ost und West, die gegenwärtig wieder der Verknüpfung der Welt der mineralisch-natürlichen Stoffe und ihrer chemisch-industriellen Weiterverarbeitung entspricht, lässt sich an Öl und Gas festmachen – seit Nobels ersten Pipelines und Tankschiffen im Baku des 19. Jahrhunderts, seit Breschnews Gasverträgen. Sie handelt zudem aber von einer Vielzahl anderer, nicht weniger wichtiger Stoffe.

Fossile Industrien sind chemische Industrien, und sie benötigen eine Vielzahl chemischer Elemente. Fast jedes Element aus Mendelejews Periodensystem hat mittlerweile eine Wirkung in unserem technischen Alltag. Entsprechend haben auch alle Fördergebiete dieser Stoffe Wirkung für die technische Kultur der Welt.

Marksteine der Chemiegeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland haben von Ressourcen aus Russland profitiert. Wenn Goethe-Freund Johann Wolfgang Döbereiner in den 1820er-Jahren in Weimarer Salons mit Platin experimentieren konnte und damit die Chemie der Katalyse vorangetrieben hat, dann nur, weil durch Verbindungen des Weimarer Herrscherhauses das Edelmetall zunächst aus Kolumbien, dann über Erbprinzengattin Maria Pawlowna aus dem Ural vorhanden war.

Einige Jahrzehnte später, um 1900, wird Platin zum Schlüsselmetall für die katalytische Erzeugung von Schwefelsäure, einen Schlüsselstoff der gesamten Chemieindustrie. Wiederum später wird Platin zu einem der wichtigsten Katalysatoren in Düngemittelindustrie, in Raffinerien, in der Petrochemie.

Die globale Situation der fossilen, chemischen Moderne ist durch Austausch zwischen Ökonomien mit sehr unterschiedlichen Selbstbildern und Narrativen gekennzeichnet. Gesellschaften wie die deutsche, die seit dem 19. Jahrhundert das Selbstbild eines Lands ohne Rohstoffe pflegt, das alle Stoffe mit chemischen Mitteln selbst erzeugen muss, vom Rübenzucker, künstlichen Indigo- Farbstoff, Gummi, Nylon und Kohlebenzin, kann dort Anregungen für die industrielle Zukunft gewinnen. Projekte, wie etwa künstliche Kohlenwasserstoffe aus CO2 und nachhaltigem Strom zu erzeugen, zielen in diese Richtung. Für eine nachhaltige Entwicklung muss sich aber eine gemeinsame Perspektive durchsetzen.

Auf mehreren Ebenen ist der Austausch von größtem Wert. Es geht um den Austausch unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher, aber auch geostrategischer Erfahrungen und Perspektiven, es geht um das Teilen der Erfahrung von Siegen und Niederlagen. Die Wissenslücken über die Länder am anderen Ende der Pipeline sind groß.

Gerade der historische Umgang mit Ressourcen kann aber zur Ressource der Debatte werden. Es gilt, den technisch bestehenden Verbindungen auch in der Interpretation der Gegenwart und im Zukunftsentwurf nachzugehen. Die Geschichte zeigt Brüche, und damit die Möglichkeit der Veränderung. Rohstoffökonomien können sich zu High-Tech-Standorten entwickeln, falsche Weichenstellungen können aber auch Entwicklung behindern.

Der gemeinsame Aufbruch in eine ungewisse Zukunft verlangt, gemeinsam und aufbauend auf unterschiedlicher historischer Erfahrung und Tradition an einer neuen Philosophie für die Weiterentwicklung des Planeten zu arbeiten. Insbesondere in der russischsprachigen Tradition liegt Potential für planetarische Energy Humanities. Wladimir Iwanowitsch Wernadski ist im Westen bereits als Vordenker des Anthropozän- Gedankens bekannt und berühmt als Pionier der Biogeochemie; aber auch mit seinen geschichtsphilosophischen Impulsen zur geohistorischen Bedeutung von Wissenschaft und Technik. Wernadski selbst hat über seinen planetarischen Gegenstand in zahlreichen Sprachen publiziert und Wissenschaft angeregt. Dieses Erbe heißt es fortzuschreiben.

Benjamin Steininger
ist Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.