Freitag, 19. April, 2024

Die Revolution entlässt ihre Follower: Die nach Moskau geflüchteten KPD-Genossen bestimmten nach dem Krieg die Entwicklung der DDR.

Von Andreas Petersen

Werner Hirsch war ein KPD-Urgestein, Chefredakteur der Roten Fahne, Sekretär und enger Weggefährte des Parteivorsitzenden Ernst Thälmann. Im Reichstagsprozess 1933 musste er als Zeuge auftreten, danach traktierte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) den standhaften Gefangenen, Juden und Kommunisten. Nach anderthalb Jahren kam er frei, floh in die Sowjetunion und verfasste eine Borschüre über die NS-Verbrechen in deutschen Konzentrationslagern. Das aber konnte ihn nicht vor den Stalinschen Säuberungen der 1930er-Jahre im Land des Roten Oktober schützen.

Es war Grete Wilde, Kaderüberprüferin der Komintern, die Hirsch bezichtigte, sich in der Nazi-Haft falsch verhalten zu haben. Sie handelte im Auftrag von KPD-Chef Wilhelm Pieck, der sich wie viele andere Parteigenossen im Moskauer Hotel Lux aufhielt. Der Sinowjew-Kamenew-Schauprozess 1936 war gerade zu Ende, da verlangte Pieck, nun auch in der KPD das „Gesindel“ auszurotten. Die Anschuldigungen waren so maßlos, dass Hirsch sich nach Paris retten wollte. Aber genau das machte ihn nur noch verdächtiger.

Hirsch wurde verhaftet, gefoltert und zu zehn Lagerjahren auf den berüchtigten Solowetzki-Inseln verurteilt. Die NKWD-Wachmannschaft hasste und schikanierte ihn. Aber auch dort blieb Hirsch standhaft, trat in den Hungerstreik und starb schließlich 1941 zermartert an den Folgen im Moskauer Butyrka-Gefängnis.

Was Werner Hirsch durchlitt, durchlitten sehr viele. Während des Großen Terrors 1937/38 wurden anderthalb Millionen Menschen verhaftet, jeder zweite von ihnen erschossen. Susanne Leonhard, Freundin der Witwe Karl Liebknechts und selbst zwölf Jahre im Gulag, schrieb: „In diesem Lande, in dem wir Kommunisten als politische Flüchtlinge Asyl suchten, spielen sich jetzt die umfassendsten und rigorosesten Kommunistenverfolgungen der Welt ab.“

Für Stalin war die Komintern, der Zusammenschluss aller Kommunistischen Parteien der Welt, von 1937 an nur noch ein Hort von Verrätern. Ganze Parteien wie die polnische, die lettische oder die weißrussische KP wurden vernichtet. Am Ende hatte Stalin die Weltbewegung des Kommunismus erdrosselt.

Annähernd 8000 deutsche Kommunisten lebten Mitte der 1930er-Jahre in der Sowjetunion. Angetrieben von Abenteuerlust, Arbeitslosigkeit und Verfolgung kamen sie ins Land: Arbeiter, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Künstler, Schauspieler. Doch für viele von ihnen wurde das Vaterland aller Werktätigen zur Falle.

1938 schätzte der Leiter der deutschen Sektion in der Komintern, dass 70 Prozent der deutschen Genossen verhaftet worden waren. Von den 68 führenden Funktionären der KPD in der Sowjetunion wurden 41 ermordet. Nur ein Drittel überlebte. Mehr als tausend tote Deutsche, hingerichtet, gestorben in Lagern und verschollen, konnten bislang identifiziert werden.

Dazu kommen die Überlebenden der Lager, die Verbannten, die Kinder in den Heimen und die an die deutsche Gestapo Abgeschobenen. „Der Kommunismus“, so der Nestor der KPD-Forschung Hermann Weber, „ist in der jüngeren Geschichte die einzige Bewegung, die mehr ihrer eigenen Führer, Funktionäre und Mitglieder ermordet hat, als es ihre Feinde taten.“

Wie erlebten die deutschen Kommunisten das sowjetische Grauen? Es war ein Schock, der ein Leben lang anhielt. Der Terror stellte das Weltbild der Überlebenden, die Frage, wer ihr Feind war, komplett auf den Kopf. Jahrelang lebten sie in Angst, lagen nachts angezogen in ihren Betten, reagierten panisch, wurden isoliert und ausgegrenzt, und versuchten sich zu retten, indem sie ihre Genossen denunzierten.

Rund die Hälfte der Deutschen in der Sowjetunion, genau 4600, waren 1936 als Politemigranten anerkannt worden; 1400 von ihnen kehrten nach 1945 in mehreren Wellen in das östliche Nachkriegsdeutschland zurück. In der wiedererstandenen KPD trafen sie auf sehr unterschiedliche Gruppen: auf die Überlebenden der Konzentrationslager, auf die, die im Land ausgeharrt hatten, und auf die Rückkehrer aus der Westemigration, die nach und nach aus Lateinamerika, Großbritannien oder Schweden zurückkamen.

Für Stalin und seine Entourage war klar, dass Partei, Staat und Gesellschaft nur mit den Moskau-Überlebenden aufgebaut werden konnten. Nur von denen, die durch die Jahre einer „atomisierten Massengesellschaft“ gegangen waren, wie die Philosophin Hannah Arendt Stalins Ziel des Terrors umschrieb, versprach er sich bedingungslose Loyalität; nur denen vertraute er, die in totaler Unterwerfung, absolutem Gehorsam und einem bleibenden Schrecken gelebt hatten. Loyalität, die er insbesondere auch für seine politischen Schachzüge gegenüber den Alliierten im Spiel um die Rolle des zukünftigen Deutschlands brauchte.

Die SED, so der ehemalige stellvertretende SED-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Ernst Thape, der 1948 in den Westen floh, war nichts anderes als ein „Werkzeug der russischen Außenpolitik“.

So formierten sich die „Moskauer“, denen die Kremlherrscher in den ersten beiden Nachkriegsjahren die Rückkehr erlaubten, zum politischen Führungscluster in Ostdeutschland. Sie setzten sich mit Parteisäuberungen, Erpressungen und Vorbereitungen von Schauprozessen im Machtkampf in der Partei, der Verwaltung und auch in den Medien durch. Im Zusammenspiel mit der omnipräsenten Sowjetarmee etablierten sie die Feindbilder der 1930er-Jahre, warnten vor „trotzkistischen Schädlingen im Parteiapparat“ und gingen brutal gegen „Opportunisten, Schumacherleute [Anhänger des Sozialdemokraten Kurt Schumacher] und Sektierer“ vor. Am Ende installierten sie die deutsche Variante jenes Terrorsystems, dem sie Jahre zuvor entkommen waren.

Die „Moskauer“ hatten im Aufbaufuror keine Zeit für langmütige Rückblicke. Sie verdrängten Irrsinn, Verfolgungen und Angst und schwiegen über die Verhaftungen und das Verschwinden der Mitstreiter. Kein Wort über die eigenen Verhöre, die Gefängnisjahre und den Verrat, ohne den damals kaum jemand überleben konnte. Aber sie wussten oder ahnten zumindest, wer von den einstigen Genossen noch immer in sowjetischen Lagern und in der Verbannung um sein Leben kämpfte. Die Letzten von ihnen kamen erst 1956 völlig gebrochen aus der Sowjetunion zurück.

Das Schicksal der Ermordeten und Verschleppten war auch nach Nikita Chruschtschows Bericht über die Verbrechen Stalins auf dem 20. Parteitag 1956 kein Thema. Das hätte unweigerlich zu Fragen geführt: Was war die Geschichte der Moskaurückkehrer, was war ihre Rolle? Und was war mit Stalins Politik gegenüber den Deutschen?

Denn da waren ja nicht nur die Ermordung der Genossen, Freunde und der Parteispitze, sondern auch die horrenden Fehleinschätzungen: die Sozialdemokratie als Hauptfeind, der Hitler-Stalin-Pakt, die ignorierten Warnungen vor einem deutschen Angriff, die Liquidierung der gesamten Armeeführung und der skrupellose Umgang mit dem deutschen Widerstand.

Das konnte und durfte nicht Thema werden. Es hätte die fragile Identität und die propagandistischen Mythen der jungen DDR in ihren Fundamenten erschüttert. Was blieb, war ein verbissenes Schweigen, bis 1989, über „tätige Opfer“ und „geopferte Täter“. So die Kaderleiterin Grete Wilde, die zehn Meldungen über Werner Hirsch an das NKWD geschickt hatte. Eine Schreibtischtäterin, die um ihr eigenes Leben kämpfte und sich dabei mit ihren getippten Listen jeden Tag gegen die eigenen Genossen entschied. Sie starb 1943, nach der Verhaftung, in einem Lager in Karaganda.

Andreas Petersen
ist Historiker und Publizist und lebt in Zürich und Berlin. Kürzlich ist sein Buch erschienen: „Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte“, 368 Seiten, S. Fischer Verlag, 2019.