Dienstag, 16. April, 2024

Der Westen hat in Syrien versagt

Von Kristin Helberg

Nach fast neun Jahren ist der Konflikt in und um Syrien nicht gelöst, aber entschieden. Gewonnen haben das syrische Regime, Russland, Iran und ein bisschen auch die Türkei. Sie wussten, was sie wollten, waren bereit, alles dafür zu tun und passten die eigenen Strategien pragmatisch der Kriegsdynamik an. Verloren haben die USA und Europa, die den Wunsch vieler Syrer nach einem Leben in Freiheit und Würde halbherzig und planlos unterstützten.

Der Westen hat viel geredet und wenig getan und mit dieser Lücke zwischen Worten und Taten die eigene Glaubwürdigkeit verspielt. Er konnte mit seinem System aus internationalen Absprachen, moralischen Prinzipien und demokratisch legitimierten Institutionen weder den Syrern helfen noch den Krieg beenden. Die liberale Demokratie hat im Syrien-Konflikt folglich versagt, die Autokratie hat gesiegt. Ein Ergebnis mit weitreichenden Folgen – für die Syrer, den Nahen Osten, Europa und die Welt.

Präsident Baschar al-Assad bleibt an der Macht und wird in den kommenden Monaten die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zurückgewinnen – in Idlib mit Waffengewalt, im Nordosten durch eine schleichende Übernahme der kurdischen Selbstverwaltung. In Syrien geht es weiter wie bisher, nur schlimmer.

Assads Herrschaft erfordert Loyalität, die er mit Klientelismus erzeugt und mit Angst erzwingt. Die beiden Säulen seiner Macht sind deshalb treu ergebene Geschäftsleute und ein weit verzweigter Geheimdienstapparat. Wer das Regime stützt wird belohnt, wer es ablehnt wird bestraft.

Die Geheimdienste sind so mächtig wie nie. Lokale Milizen machen, was sie wollen. Es wird bestochen und erpresst, gedroht und entführt, geplündert und gestohlen. Ging die Willkür vor dem Krieg ausschließlich vom Staat aus, sind die Syrer nun auch nicht-staatlichen und ausländischen Akteuren ausgeliefert.

Das pseudosozialistische, neokapitalistische Wirtschaftssystem hat zu einer Symbiose zwischen Unternehmern und Regimevertretern geführt. Durch die von Assad vorangetriebene Liberalisierung und die Kriegswirtschaft der vergangenen Jahre sind Herrschafts- und Vermögensstrukturen in Syrien miteinander verschmolzen. Regimenahe „crony capitalists“ profitieren von der Privatisierung öffentlichen Eigentums, von Schmuggel und der Bildung von Monopolen im Dienstleistungssektor. Macht und Geld sind in Syrien nicht voneinander zu trennen, was bei humanitärer Hilfe und beim Wiederaufbau zu beachten ist.

Während Teile des Landes in Trümmern liegen, das syrische Pfund weiter an Wert verliert und laut UN mehr als 80 Prozent der Syrer in Armut leben, kümmert sich das Regime im Sinne der Herrschaftssicherung vor allem um seine Anhänger und Unterstützer. In Aleppo fließen UN-Gelder nicht in die am meisten zerstörten Wohnviertel im ehemals oppositionell verwalteten Osten der Stadt, sondern in Gebiete, deren Bewohner als regimetreu gelten. Im Süden von Damaskus baut die Stadtverwaltung auf den Ruinen zerbombter Mittelstands- und Arbeiterviertel nicht etwa Sozialwohnungen, sondern Luxusressorts. Frühere Bewohner werden enteignet oder mit lächerlichen Summen entschädigt.

Dieses Verhalten lässt sich von außen nicht beeinflussen, da es den Herrschenden das Überleben sichert. Seit Jahrzehnten sind Gesellschaft, staatliche Institutionen und Privatwirtschaft vom Regime vereinnahmt, sie bilden ein engmaschiges Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten. Jedes echte Zugeständnis – etwa die Entmachtung der Geheimdienste, Meinungs- und Pressefreiheit oder eine unabhängige Justiz – würde das System zum Einsturz bringen und die Machthaber in Damaskus existenziell bedrohen. Das syrische Regime ist folglich seinem Wesen nach unfähig zu wirksamen Reformen.

Diese Erkenntnis ist wichtig für ausländische Akteure, die im Umgang mit Damaskus eine Strategie suchen. Vergeblich bemühen sich die USA und Europa seit 2012 um einen „glaubwürdigen politischen Übergang“ inklusive Machtübertragung, Übergangsregierung, neuer Verfassung und demokratischer Wahlen unter UN-Aufsicht.

Das von Staatschefs und Außenministern wiederholte Mantra, der Konflikt könne nicht militärisch, sondern nur politisch gelöst werden, ist zur peinlichen Floskel verkommen. Sie entlarvt die Strategielosigkeit und Handlungsunfähigkeit des Westens. Denn sie missachtet eine Grundregel der Diplomatie, der zufolge eine Verhandlungslösung erst dann möglich ist, wenn sämtliche Konfliktparteien keinen Sinn mehr darin sehen weiterzukämpfen. Militärische Eskalation darf sich für keine Seite mehr lohnen, erst dann gibt es Bereitschaft zum Kompromiss und diplomatischen Spielraum.

An diesem Punkt befand sich der Syrien-Konflikt noch nie. Für Assad hat es sich stets gelohnt, ums Überleben zu kämpfen, denn sein Regime hatte alles, was es brauchte, um den Krieg militärisch zu gewinnen: Massenvernichtungswaffen und die Bereitschaft, sie gegen die eigenen Landsleute einzusetzen; eine Weltmacht Russland, die ihren letzten Verbündeten in Nahost an der Macht halten will und deshalb mit ihrer Luftwaffe sämtliche Regime-Gegner vernichtet oder vertreibt; eine in asymmetrischer Kriegsführung erfahrene Regionalmacht Iran, die schiitische Milizen am Boden organisiert; eine kriegsmüde, zögerliche und im Rückzug begriffene Weltmacht USA, uneinige und planlose Europäer, ein blockierter UN-Sicherheitsrat und die Ignoranz der Weltgemeinschaft.

Die Versuche der Amerikaner und Europäer, Druck auf Damaskus aufzubauen, beschränkten sich auf ein ausgefeiltes Sanktionsregime (schmerzhaft für die syrische Führung, aber mit Hilfe verbündeter Handelspartner erträglich), halbherzige Waffenlieferungen an wechselnde Rebellengruppen (über Jahre zu wenig zum Siegen und zu viel zum Verlieren) sowie zwei völkerrechtswidrige, symbolische und folgenlose Angriffe auf Militärbasen, um den Einsatz von Chemiewaffen zu bestrafen. Nichts davon führte zu einer Verhaltensänderung oder erhöhten Kompromissbereitschaft des syrischen Regimes.

Vor diesem Hintergrund ist die Vorstellung, Europa könne mit finanziellen Anreizen beim Wiederaufbau Einfluss auf die Machtverhältnisse und die Realität in Syrien nehmen, schlicht naiv. Jeder europäische Parlamentarier – ob linker Antiimperialist oder rechter Nationalist –, der nach Damaskus reist, um sich von Regimevertretern den „normalen Alltag“ und die „stabile Sicherheitslage“ zeigen zu lassen, wird zum Propagandisten Assads. Und zum effektiven Unterstützer der Strategie Wladimir Putins.

Der russische Präsident folgt im Gegensatz zu den USA und Europa in Syrien einem funktionierenden Plan. Er besteht aus drei Stufen: retten, rückerobern, rehabilitieren. Aktuell befinden wir uns im Übergang zu Phase drei, deren Ziel es ist, das syrische Regime international salonfähig zu machen.

Die Logik dahinter klingt plausibel: Assad hat gewonnen und bleibt an der Macht, also besser die Realität anerkennen und konstruktiv am Wiederaufbau des geschundenen Landes mitarbeiten, damit es den armen Menschen dort bald besser geht und die geflüchteten Syrer zurückkehren können.

Einziges Problem: Wer die Menschen in Syrien im Blick hat, sollte nicht das Regime stützen. Denn jeder Euro, der in guter Absicht nach Damaskus geschickt wird, dient der Festigung jener Herrschaftsstrukturen, die vor neun Jahren zum Aufstand führten.

Was ahnungslose Politiker, Journalisten oder Blogger vor Ort als Stabilität wahrnehmen, ist Friedhofsruhe. Assad braucht das Geld, um seine Cronies zu entlohnen, Milizen ruhig zu stellen, Anhänger mit besseren Lebensbedingungen an sich zu binden und den Geheimdienstapparat zu erhalten. An der Rückkehr geflüchteter Syrer hat er kein Interesse, schließlich hat er die meisten davon gezielt vertrieben, um ehemals oppositionelle Gebiete von Gegnern zu säubern.

Assad frohlockt, schließlich arbeitet die UN seit Jahren mit regimenahen Organisationen, Unternehmen und Personen zusammen, die das Geld in seinem Sinn verteilen. Einige dieser Partner stehen auf den Sanktionslisten der USA und Europas – ein Skandal, sind doch Washington und Berlin die größten bilateralen Geber humanitärer Hilfe in Syrien.

Während Europäer und Amerikaner die Syrer also humanitär versorgen und Assad damit den Rücken für seinen Idlib-Feldzug freihalten, arbeiten Russland, Iran und die Türkei an der langfristigen Absicherung ihres Engagements in Syrien. Ihre autokratisch denkenden Führungen verstehen Außenpolitik nicht als diplomatisches Aushandeln von Kompromissen, sondern als reine Interessenpolitik.

Mit den Herrschaftsmethoden Assads haben sie naturgemäß kein Problem, im Inneren kann das Regime deshalb walten wie es will. Nicht mal der Kreml hat Einfluss auf Assads Geheimdienste, Sicherheitsgarantien für rückkehrwillige Syrer wird es deshalb von russischer Seite nicht geben.

Für die drei Interventionsmächte hat sich der Einsatz in Syrien gelohnt. Ankara ist zwar von seinem ursprünglichen Ziel eines Machtwechsels in Damaskus abgerückt, kann aber einen Teil der syrischen Aufständischen als islamistische Söldner zur Durchsetzung eigener Interessen nutzen – östlich des Euphrats gegen die Kurden, inzwischen auch in Libyen. Mit ihrem Einmarsch im Oktober 2019 hat die Türkei die dort herrschende Partei der demokratischen Union (PYD) in die Arme Assads und Putins getrieben und ein kurdisches Autonomieprojekt mittelfristig verhindert.

Eine Wiederannäherung zwischen Ankara und Damaskus ist möglich, ihre Geheimdienstchefs trafen sich im Januar in Moskau. Mit Verweis auf das Abkommen von Adana aus dem Jahr 1998 versucht Putin, die beiden Nachbarn auf einen gemeinsamen Kampf gegen die PKK und ihre Verbündeten einzuschwören.

Russland unterhält in Syrien drei Militärbasen und bleibt damit über Jahrzehnte im östlichen Mittelmeerraum präsent. Daneben haben sich russische Firmen mit einseitigen Verträgen einen Großteil der Gewinne bei der Förderung von Öl, Gas und Phosphor gesichert. Moskau will in Syrien staatliche Strukturen stärken und Milizen einhegen – ganz im Gegensatz zu Teheran, das an einem Staat im Staat arbeitet, um den eigenen Einfluss militärisch, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu verstetigen. Nach dem Vorbild der iranischen Revolutionsgarden baute der ermordete General Qassem Soleimani die National Defense Forces (NDF) auf, syrische Paramilitärs, die unter lokaler Führung für Assad kämpfen.

Was im Libanon mit der Hisbollah gelang und im Irak mit den Hashd al-Shaabi, soll sich in Syrien mithilfe der NDF wiederholen – ein dauerhafter Einfluss über einen von Iran abhängigen lokalen Stellvertreter. Die schiitische „Achse des Widerstands“, die von Teheran über Bagdad, Damaskus und Beirut bis zum Mittelmeer und an die Grenzen Israels reicht, wäre damit komplett.

Ob die iranische Führung diese Vision ohne ihren Strippenzieher Soleimani und angesichts von verschärften Sanktionen, aufflammenden Protesten und einer immanenten militärischen Eskalation mit den USA umsetzen kann, ist fraglich. Zumindest mit Blick auf Syrien, wo ihr mit nur zwei Prozent Schiiten die Basis in der Bevölkerung fehlt. Russland könnte Irans derzeitige Schwäche nutzen und die syrische Nachkriegsordnung weiter zum eigenen Vorteil ausgestalten.

Der Syrien-Konflikt ist für die USA und Europa verloren. Kurzfristig sollten sie gegenüber dem Regime und den russischen Befriedungsbemühungen standhaft bleiben und mit Druck auf die UN dafür sorgen, dass ihre humanitäre Hilfe den Bedürftigsten zugute kommt und nicht Assads Patronagenetzwerk. Langfristig können die Europäer auf den Veränderungswillen der Syrer hoffen und sie überall dort, wo es Raum dafür gibt, in ihrem Streben nach Freiheit, ihren Bemühungen um Gerechtigkeit und ihrem Wunsch nach Aussöhnung unterstützen.

Kristin Helberg
ist Journalistin und Syrien-Expertin. Sie arbeitet für die ARD, den ORF und andere TV-Sender. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“ (Herder).